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Buchrezension: Thyssen im 20. Jahrhundert – Band 6: “Zwei Bürgerleben in der Öffentlichkeit. Die Brüder Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza”, von Felix de Taillez, erschienen im Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2017 (scroll down for English version)

Die offizielle Geschichte zum Zweiten Weltkrieg, die in der Vergangenheit vom Thyssen Komplex herausgegeben wurde, war dass Fritz Thyssen die Nazis eine Zeit lang unterstützt hatte, er aber gegen den Krieg gewesen sei und daher aus Deutschland floh, festgenommen wurde und in ein Konzentrationslager kam. Von seinem Bruder Heinrich wurde gesagt, er sei ein Ungar gewesen und in der Schweiz wohnhaft, sodass überhaupt keine Verbindung zu Deutschland oder gar zum Nationalsozialismus bestanden hätte. Nachdem wir in unserem Buch „Die Thyssen-Dynastie“ (2008) aufgezeigt hatten, dass dies nicht der Wahrheit entspricht, lancierte die Fritz Thyssen Stiftung als Antwort eine akademische Reihe, in die sich dieser Band eingliedert. Er befasst sich vor allem mit Berichterstattungen über die Thyssens in verschiedenen Zeitungen und ist der längste der Serie, mit 546 Seiten, weshalb sich diese Besprechung auf 20 Seiten erstreckt. Das Buch setzt die allgemeine Tonlage der Reihe fort, nachdem die einzelnen Autoren zwar Informationen veröffentlichen, die den alten Thyssen Mythen klar widersprechen, diese Mythen jedoch nichtsdestrotrotz weiter aufrecht erhalten werden.

 

Wie wir sehen werden würde Felix de Taillez diese Haltung als „vollkommen verständlich“ qualifizieren, da die Thyssens und die Thyssen Unternehmen „einen guten Ruf zu verteidigen“ haben. (1997 fusionierte die Thyssen AG mit der Krupp AG zur Einheit thyssenkrupp, welche sich gegenwärtig in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet). Das bevorzugte Mittel von de Taillez, um berechtigte Kritikpunkte zu vermeiden ist es, etwas als „bemerkenswert“ zu bezeichnen. Er verwendet diesen Ausdruck ausgesprochen oft, was ein äusserst gestelltes Bild ergibt. „Bemerkenswert“ ist ein vager Ausdruck, den man in einer akademischen Arbeit nicht in dieser hohen Frequenz erwartet. Es scheint, als würde de Taillez so eine Atmosphäre von „Spin“ erschaffen, welche Menschen ohne Vorkenntnis des Themas umgarnt. Dies birgt die Gefahr seine ansonsten exzellente historische Arbeit in ein Werk der Public Relations zu verwandeln.

 

Für die Allgemeinheit sieht es so aus, als würde Felix de Taillez diese beiden Gesichter der Medaille äußerst gut zuwege bringen und es erstaunt nicht, dass er es zu einer verantwortungsvollen Position als Referent der Präsidentin der Universität der Bundeswehr in München gebracht hat, die für die Ausbildung des deutschen Offizier-Korps zuständig ist. Aber es gibt Unstimmigkeiten in seiner Buchpräsentation und da seine Thesen jetzt mit der deutschen Staatsräson in Einklang stehen sollten, gibt dies Anlass zur Sorge. So verspricht seine Online Präsenz an der Ludwig-Maximillians-Universität:

 

„(Dieses Projekt) wird die Brüder Fritz und Heinrich Thyssen als EINHEIT GERADEZU KOMPLEMENTÄRER GEGENFIGUREN interpretieren, DENN DER SCHEINBAR UNPOLITISCHE HEINRICH AGIERTE, WENN AUCH VERDECKT, MINDESTENS SO NACHHALTIG POLITISCH wie Fritz. Mediale Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit erscheinen in dieser Perpektive als ABGESTIMMTE STRATEGIE POLITISCHEN HANDELNS“.

 

Diese Aussage scheint eine willkommene, neuartige Ehrlichkeit zu versprechen und doch erstaunt sie gleichzeitig, denn sie erscheint nicht im Buch selbst und ist tatsächlich gar nicht repräsentativ für dessen Ausarbeitungen. Im Band selbst wird Heinrich Thyssen-Bornemisza’s Medienabstinenz tenorartig weiterhin damit erklärt, dass er im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren in jungen Jahren in London schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht und sich danach mit seiner Heirat 1906 als unpolitischer, ungarischer Adeliger aus dem öffentlichen (v.a. dem deutschen!) Leben komplett zurückgezogen habe.

 

Dies ist die Version, welche auch die Familienmitglieder seit jeher propagiert haben. Erst kürzlich wieder ließ sich Francesca Habsburg née Thyssen-Bornemisza im Financial Times Weekend Magazine als österreichische Thronanwärterin und Enkelin eines „ungarischen Barons“ feiern. Was sicherlich angenehmer ist, als Heinrich Thyssen-Bornemisza korrekterweise als bürgerlichen, deutschen Waffenhersteller und Nazi Banker preisgeben zu müssen; besonders, wenn man sich, wie Habsburg-Thyssen, im schönen Schein der teuren Kunst sonnt, die die Familie, zumindest teilweise, mit den Profiten dieser verwerflichen Aktivitäten erstand.

 

Selbst der von Felix de Taillez für seine Arbeit gewählte Titel ist auffallend irreführend, suggeriert er doch, dass beide Brüder, und zwar als bürgerliche Mitglieder der Gesellschaft, gleichwertig und gewollt in der Öffentlichkeit verankert gewesen seien. Dabei sahen sich die ja gerade diese Thyssen Brüder gar nicht als Teil des Bürgertums. Auch befasst sich nur ein knappes Viertel des Werks mit Heinrich Thyssen-Bornemisza, und nur mit seiner ausdrücklich zugelassenen Sichtbarkeit in den exklusiven Teilöffentlichkeiten der Kunstsammlerei (welche von Johannes Gramlich bereits ausführlich erarbeitet wurde) und des Pferderennsports (welche wir in einem separaten Artikel nach dieser Rezension besprechen werden).

 

Wir nahmen an, de Taillez würde aufzeigen, wie es Heinrich Thyssen ansonsten gelang, sich aus Medienberichten konsequent herauszuhalten und was er dabei der öffentlichen Einsichtnahme zu entziehen suchte. Immerhin verfügt das neu gegründete Archiv der Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen in Duisburg über erstaunliche 840 laufende Meter bis zu dieser Serie (ausser von uns) unerschlossenen Materials zum Thema Thyssen-Bornemisza. Doch anstatt gründlich den Wind der Aufarbeitung durch die Bestände des Archivs der ThyssenKrupp AG und der neu hinzugekommenen Akten wehen zu lassen, wird die Öffentlichkeit wieder einmal mit Krümeln abgespeist.

 

In diesem Band wie in der ganzen Serie bleiben die polit-ökonomischen Handlungen v.a. des Heinrich Thyssen-Bornemisza weitgehend verschleiert, diesmal dem Thema entsprechend hinter der Aussage, die Brüder seien Opfer unausgewogener Berichterstattungen und Medienmechanismen wehrlos ausgesetzt gewesen. Felix de Taillez erwähnt Heinrich’s Beteiligung am Private Banking nicht, welches von Natur aus unter größter Diskretion abgewickelt wird. Er verschweigt seine Freunschaft mit Hermann Göring (ein Kunde der August-Thyssen-Bank) und erwähnt auch nicht die Benutzung der Bank durch die deutsche Spionageabwehr. Dadurch vermeidet er es, Informationen darüber zu geben, wie die Thyssens ihrerseits, und v.a. Heinrich, die Medien manipuliert und ihre Aktivitäten aus deren Spotlight herausgehalten haben.

 

* * *

 

Zu den aufschlussreichen Beschreibungen in Felix de Taillez’s Buch gehört die Aussage, dass Heinrich im Ruhrkampf 1923 sich „politisch auf die Seite von Fritz“ schlug, er „in gewisser Weise (…) sogar radikaler als sein Bruder (Fritz war), da er Verhandlungen mit der Besatzungsmacht grundsätzlich ablehnte“. „Hinter den Kulissen“, so heisst es, traf Heinrich „zusammen mit Weggefährten“, – die de Taillez unbenannt lässt – „die sich alle einer ‘vaterländischen Bewegung der Ruhr’ angeschlossen hatten, führende Militärs und Politiker in Berlin (…).“ Als „Finanzverwalter“ der „Ruhrschutz-Gemeinschaft“ habe Heinrich Thyssen-Bornemisza „Propaganda im deutschen Sinn in allen besetzten Gebieten“, (sowie in) „Holland, (der) Schweiz, Elsass-Lothringen und Italien“ mit organisiert, so de Taillez weiter.

 

Man würde gerne Frau Habsburg fragen, warum ein Mann, der angeblich ein ungarischer Baron war, so etwas getan haben soll. Und wieso hat es ein Jahrhundert gedauert, bis diese Einstellungen und Handlungen des Heinrich Thyssen-Bornemisza ans Licht der Öffentlichkeit kamen? Weil hier über die Jahre hinweg eine ganz bewusste Strategie am Werk war. Weil der Thyssen-Komplex die Thyssen Brüder bisher immer so porträtiert hat, als sei Fritz der deutsche Nationalheld und Heinrich der von allem deutschen Übel Befreite gewesen. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe und spielt gleichzeitig bei Fragen von Macht und Schuld Verwirrspiele mit der Öffentlichkeit.

 

Aber so vorteilhaft diese Art von Dienlichkeitslegenden auch sein mag, es ist sehr aufwändig, sie aufrecht zu erhalten; denn die Welt ist ja, glaubt man Felix de Taillez, voller „schonungsloser“ linker Schreiberlinge, die aus unerfindlichem Grund darauf bestehen, Dinge zu hinterfragen. So kam es z.B. auch, wie der Autor darlegt, dass ausgerechnet „das SPD-Blatt ‘Vorwärts’“ 1932 von einem holländischen Insider die Information bekam und diese auch druckte, dass die Thyssen-Firma „Vulcaan beim Erzfrachtverkehr der (Vereinigten Stahlwerke AG) bevorzugt (wurde), indem sie als einzige Reederei in den Genuss von sehr langfristigen Verträgen mit dem Düsseldorfer Stahlriesen gekommen sei. Überdies zahle die (VSt) dafür Raten, die weit über den üblichen Marktpreisen lägen“.

 

Man würde annehmen, es sei als verwerflich einzustufen, dass ein Teil des von Christopher Neumaier so treffend als „exorbitant“ beschriebenen Thyssen Vermögens also auf unlauteren Geschäftspraktiken zu beruhen scheint. Aber de Taillez erlaubt sich statt dessen den folgenden Kommentar: „Auf diese Weise wurden Geschäftsverbindungen enthüllt, die die Thyssens unter erheblichem Aufwand zu verschleiern versucht hatten“. Als sei die wirtschaftskriminelle Tat eine Leistung und das wahre Übel deren wahrheitssuchende Aufdeckung.

 

Und de Taillez setzt auf diese verdrehte Betrachtungsweise sogar noch einen drauf. Fritz Thyssen bezeichnete den Mangel an Kapital als das größte wirtschafliche Problem der Weimarer Republik. Die Frage nach seiner eigenen Kapitalflucht aus Deutschland heraus verwies er jedoch ins Reich der Legende, z.B. in einem Interiew mit Ferdinand de Brinon 1924. Absolut verständlich, nach Auffassung von de Taillez, schließlich hatte er ja einen Ruf als „pflichtbewusster deutscher Unternehmer“ aufrecht zu erhalten. Wodurch die Künstlichkeit der Thyssenschen Reputation im Handumdrehen ein akademisches und, wegen der Position des Autors, sogar ein quasi staatstragendes (!) Legitimitätssiegel erhält.

 

* * *

 

Das Leben der Thyssen Brüder Heinrich und Fritz strotzte nur so von künstlichen Konstrukten. Da war ihr Militarismus, welchen de Taillez als verinnerlichte Verbindung zu ‘Heer, Tradition, Glaube und militärischen Praktiken’ darstellt. Beide hatten sich in Hohenzollernschen Elite-Regimentern militärisch ausbilden lassen und doch verweigerte sich Heinrich dem Kriegsdienst und Fritz entwich ihm frühzeitig, indem er sich „auf eigenen Vorschlag mit einem offiziellen Auftrag des Auswärtigen Amts betrauen (ließ), um die Rohstofflage für das Reich im Orient (Osmanisches Reich) zu klären“. Stephan Wegener’s Behauptung, die Thyssens hätten im ersten Weltkrieg hohe materielle Verluste erlitten ist nichts weiter als Familienfolklore, die unliebige Fakten zu verschleiern sucht. Wegener, vom Familienzweig des Josef Thyssen, blendet bequemerweise aus, dass die Familie nicht nur vom deutschen Staat entschädigt wurde, sondern auch noch enorme, komplett auditierte Gewinne durch Lieferung von Stahl, Waffen und U-Booten (unter Verwendung von Zwangsarbeitern) machte. Es schwer auszuhalten, dass Felix de Taillez und andere in der Serie die Familienlegende der hohen Kriegsverluste unhinterfragt wiedergeben, als sei sie Fakt.

 

Zu welchen charakterlichen Verrenkungen ihre Selbstinszenierungs-Konstrukte führten wird für Heinrich Thyssen-Bornemisza am besten am Beispiel seiner adoptierten Nationalität deutlich. Da er sich im Gegensatz zu Fritz als „Ungar“ aufstellen musste, bestand er unerbittlich darauf, sein Schloss im Burgenland mit der ungarischen Bezeichnung „Rohoncz“ zu benennen. Die deutsche Version war ihm zu „sozialistisch“ (aus einem Brief an seine Frau, siehe „Die Thyssen-Dynastie“, Seite 123 – er implizierte fälschlicherweise, der deutsche Begriff sei 1919 mit Ausrufung der Republik neu entstanden). Hierbei legte Heinrich sich laut de Taillez sogar mit der burgenländischen Landesregierung, dem österreichischen Bundesdenkmalamt, dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultur und dem Auswärtigen Amt in Berlin an. Ironischerweise saß die Schlossverwaltung ganz woanders, nämlich beim Rotterdamsch Trustees Kantoor in Rotterdam. Doppelt und dreifach tarnte sich “der Baron“; ortsgebundene Amtshengste hatten solchen extravaganten Strategien nichts entgegen zu setzen.

 

Auch Fritz stand der Abschaffung der Monarchie in Deutschland und Österreich, sowie der aufsteigenden Sozialdemokratie feindselig gegenüber. Laut de Taillez sah er Deutschland als bedrängten Mittelpunkt eines engen Kreises aus England, Frankreich, Italien und Russland und meinte, der „große Druck von außen lasse die deutsche nationale Einigung auf demokratischem Wege nicht zu“. Sozialdemokraten fand er als „gemäßigte Revolutionäre“ „genauso gefährlich“ wie radikalere Umstürzler. Thyssen wollte, so de Taillez, dass der „spirit of the worker“ einfach nur „deutsch“ sei, und sonst gar nichts. Während die Gewerkschaften verstärkte Rationalisierungen, Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen forderten, wollte er ein durch die Heraufsetzung des Arbeitstags von 8 auf 10 Stunden (!) wiedererstarktes Volk und das Ende der betrieblichen Mitbestimmunng. Doch wie konnte dies den Kriegsheimkehrern schmackhaft gemacht werden, die sich zunehmend pazifistischen und demokratischen Organisationen zuwandten?

 

Laut Niels Löffelbein, erklärt George Mosse den Aufstieg des Faschismus durch eine „Brutalisierung“ der politischen Kultur der Nachkriegszeit durch die Masse der Soldaten, die zu einer „Entgrenzung und Radikalisierung der politischen Gewalt“ geführt habe. Angel Alcalde hält dem entgegen, die Weltkriegsteilnehmer seien in der „mythomotorischen Inkubationszeit“ der 1920er Jahre durch die extreme Rechte und Veteranenorganisationen zunehmends als anti-bolschewistische Kämpfer „instrumentalisiert“ worden. Im Kult um die gefallenen (wie die noch kampfbereiten) Helden zelebrierten sie die Verbindung von Radikalnationalismus und Krieg. Laut de Taillez richtete Fritz Thyssen noch im Oktober 1917 eine Beitrittserklärung an die rechtsnationale Deutsche Vaterlandspartei (DVLP). 1927 gab er während einer Abendveranstaltung des „Stahlhelm Bund der Frontsoldaten“, des „gewaltbereiten Kampftrupps“ der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) in seiner Heimatstadt Mülheim eine Rede. Auch dem „Bündnis der antidemokratischen rechtsextremen Harzburger Front“, in dem der „Bund der Frontsoldaten“ vertreten war, soll er „sehr nahe“ gestanden haben.

 

Wie Felix de Taillez schreibt, unterstützte Thyssen auch die Austro-faschistische Heimwehrmiliz: „Über Anton Apold, (…) dem Generaldirektor der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft (…) (die) mehrheitlich der Vereinigte Stahlwerke AG gehörte, (…) gab es eine Verbindung Thyssens zu den rechtsradikalen Heimwehren in Österreich.“ „Dem deutschen Großindustriellen wurden von der Düsseldorfer Volkszeitung unterstellt, auf ‘begrenztem Kampffeld in Österreich’ testen zu wollen, wie der Einfluss der Gewerkschaften gebrochen werden könnte.“

 

All dies wird eindeutig auch Heinrich im Geiste unterstützt haben, aber als angeblicher Ungar hielt er sich aus der deutschsprachigen Berichterstattung zum Thema heraus und wurde so nicht als rechtsextremer Unterstützer wahrgenommen. Indem er versäumt, dies klar zu sellen, trägt de Taillez zu dem Bild bei, das in dieser Reihe weiterhin von Heinrich gezeichnet wird, eines Mannes nämlich, der in keinster Weise ein Sympathisant der extremen Rechten gewesen sei. Das ist eine Behauptung, die ausschließlich auf der Abwesenheit öffentlicher Quellen beruht, die als solche bewusst von Heinrich und seinen Partnern sicher gestellt wurde. Mangel an Beweisen ist nicht mit Beweis eines Nichtbestehens gleich zu setzn. Dies hätte von de Taillez klar gestellt werden müssen. Doch tut er dies nicht, denn wenn man Heinrich’s rechtsextreme Sympathien enthüllt, zerstört man zugleich den mythologischen Ruf der Thyssens.

 

* * *

 

Für die Thyssens gab es stets Interessenkonflikte zwischen ihrer nationalen Zugehörigkeit und ihren wirtschaftlichen Eigeninteressen. Nachdem sie bereits vor dem ersten Weltkrieg die Besitzstrukturen ihrer Werk in die neutralen Niederlande verlegt hatten, beteiligten sich Fritz und sein Vater August kurz nach Ende des Krieges in Düsseldorf an Gesprächen über die Gründung einer Rheinischen Republik. Laut de Taillez lautete der Vorwurf des Mülheimer Arbeiter- und Soldatenrats, der sie verhaftete, dass sie „die Abtrennung Rheinland-Westfalens und die Besetzung des Ruhrgebiet durch die Alliierten gefordert hätten“. Ein Kellner hatte das Treffen gemeldet und die Thyssens sahen sich bald als „profitgierige Heuchler“ und „Geldsackpatrioten“ bezeichnet; andere sagten, dies sei eine Verleumdung absolut treu-deutscher Industrieller. Das Verfahren gegen sie wurde eingestellt, offiziell, weil ihnen kein Hochverrat an Deutschland nachgewiesen werden konnte. Felix de Taillez schreibt der Kellner hätte gestanden, gelogen zu haben. Dass er dies eventuell tun musste, um seinen, oder überhaupt einen, Job zu behalten, scheint dem Autor nicht in den Sinn zu kommen. Fritz Thyssen, der laut de Taillez „für die deutsche Politik einen viel höheren Stellenwert als ein normaler Bürger“ hatte, wurde bald darauf vom Auswärtigen Amt in Berlin an den vertraulichen Nachverhandlungen einzelner Artikel des Vertragswerks des Versailler Friedensvertrags beteiligt.

 

Bereits kurz nach dem Krieg fing Fritz Thyssen auch an, sich in Argentinien einen Ausweichwohnsitz einzurichten, in dem er zunächst die Estancia Don Roberto Lavaisse in der Provinz San Luis erstand. Auch die Verbindung der Familie mit Südamerika reichte bereits in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurück, als August Thyssen in Buenos Aires eine Zweigniederlassung der Firma Deutsch-Überseeische Handelsgesellschaft der Thyssen’schen Werke (Hamborn) gegründet hatte. Seit 1921 hieß die Tochterfirma dann Compania Industrial & Mercantil Thyssen Limitada. 1927 übernahm sie die Firma Lametal und „firmierte fortan unter Thyssen-Lametal S.A.“. Heinrich Thyssen-Bornemisza verkaufte sie laut de Taillez 1927 für 4,8 Millionen Gulden an die Vereinigte Stahlwerke AG. Auch in Brasilien hatte die Familie seit Jahren Besitz und warb für den wirtschaftlichen Handel dort.

 

Während des Ruhrkampfs 1923, den Fritz Thyssen angeblich als „legitime Abwehrmaßnahme gegen die ausländischen Neider“ interpretierte, ließ er sich vor dem alliierten Gericht durch Friedrich Grimm verteidigen, einem erklärten Antisemiten und späteren NS-Juristen, der laut de Taillez nach 1945 NS-Täter verteidigte und NS-Verbrechen verharmloste. In den Augen des Autors wurde Thyssen aber nur künstlich zur „Projektionsfläche“ einer „neuen deutschen Nationalidentität“ bzw. eines „freien Deutschtums“ „hochstilisiert“ , und zwar vor allem durch die New York Times und die Times of London. Dabei bildete der Ruhrkampf die erste Möglichkeit für Fritz, öffentlich aus dem Schatten seines bis dato allbestimmenden Vaters herauszutreten, der nun ernsthaft kränkelte. Dieses Selbstbefreiungsmotiv ist aus unserer Sicht im Zusammenhang mit Fritz Thyssen’s öffentlich zelebrierten Rechtsrucks ein nicht zu unterschätzender Faktor.

 

Wenn es nach de Taillez geht, muss konkret „offen bleiben“, „ob Fritz Thyssen von der Welt eines mitunter extremen Nationalismus, der sich in Deutschland im ersten Weltkrieg gebildet hatte, erfasst wurde“. Schade nur, dass seine Ehefrau Amelie Thyssen in dieser akademischen Reihe so wenig Beachtung findet, ausser als Co-Stifterin der Fritz-Thyssen-Stiftung. Laut Heini Thyssen’s persönlicher Aussage uns gegenüber war Amelie Thyssen jedenfalls alles andere als „hochstilisiert“, sondern tatsächlich während dieser „Inkubationszeit“ der 1920er Jahre in ihrem starken Deutschnationalismus nationalsozialistisch. Obwohl de Taillez immer wieder beschreibt, wie sehr Fritz von der Meinung seiner Frau abhing, lässt er die Möglichkeit der politischen Beeinflussung innerhalb dieser Paarbeziehung gänzlich unerwähnt. Da Amelie die treibende Kraft hinter der Wiedererlangung des Thyssen-Imperiums nach dem zweiten Weltkrieg war, würde auch jedes schlechte Licht auf sie, den mythologischen Ruf der Thyssens gefährden.

 

Grimm’s Argumentation vor Gericht war von der Aussage geprägt, dass „Privatbesitz wie die Ruhrkohle (…) rechtlich ohne Entschädigung der Eigentümer nicht einfach beschlagnahmt werden (könne), um staatliche Schulden zu tilgen. De Taillez behauptet, der Ruhrkampf habe in Fritz Thyssen ein „politisches Sendungsbewusstsein“ ausgelöst, „das weit über die Aktivitäten im Interesse des Geschäfts hinausging“. Er gesteht ein, dass Thyssen durch seine Aussagen, die deutsche Wirtschaft könne „nur durch größere Arbeitsleistung“ gesunden, SCHULD auf sich geladen habe. Er habe nämlich „durch solche öffentliche Äußerungen (…) auch zum Scheitern der Sozialpartnerschaft in den 1920er Jahren (beigetragen), was die demokratische Staatsform in Deutschland erheblich gefärdete“.

 

Später ließ Adolf Hitler Fritz Thyssen in dem Glauben, er dürfe für sein Konzept des korporativen Staats eine Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft führen. Diese nicht erwiderte Tätigkeit ermutigte Fritz zu beträchtlicher politischer Aktivität. Fritz war enttäuscht, als sein Projekt nicht umgesetzt wurde, aber, als er dies bei Hitler bemängelte, erwiderte dieser: „Es gibt nichts, wofür ich Ihnen dankbar sein müsste. Was Sie für unsere Bewegung getan haben, haben Sie zu Ihrem eigenen Nutzen getan und es als Versicherungsprämie abgeschrieben“. (Zitat bei Henry Ashby Turner Jr., siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 138).

 

Laut de Taillez verfolgte Fritz Thyssen vorrangig seine eigenen Geschäftsinteressen, außer dann wenn für ihn nicht ganz klar war, „welcher Weg (diesen) am zuträglichsten sein würde“. In der Europäischen Verständigungspolitik beschreibt er ihn als „zweideutig“. Thyssen kritisierte die Weimarer Republik sowohl in der französischen Presse als auch in der amerikanischen Öffentlichkeit, bezeichnete die deutsche Regierung als „schwach und nicht vertrauenswürdig“ und fiel damit „der deutschen Außenpolitik in einer schwierigen Situation in den Rücken“. Andererseits kritisierte er die „kurzsichtige und engherzige egoistische Wirtschaftspolitik der Nordamerikaner“. Thyssen „wollte bilaterale Austauschverträge für den Rohstoffverkehr, die der internationalen Finanzspekulation das Handwerk legen und Unabhängigkeit vom Wechselkurs erreichen sollte“. Wenn Fritz aber „gegen die Finanztechnik (wetterte), die die wirkliche Wirtschaft störe“, so blendete er dabei praktischerweise aus, dass die Thyssen-Familie drei internationale Banken zu 100% kontrollierte und damit selbst ein Global Player in Sachen Finanztechnik war (was allerdings von de Taillez unbegreiflicherweise nicht erwähnt wird).

 

* * *

 

Obwohl seine Nachwuchsgruppenleiterin Simone Derix es in ihrem Band bereits ausgiebig widerlegt hat, behauptet Felix de Taillez wiederum dass Heinrich seinen Erbteil des Familienkonzerns vollkommen unabhängig vom Erbteil des Fritz Thyssen führte. Auch dass die beiden Brüder ein schlechtes Verhältnis gehabt hätten betont er häufig. Nun mag es ja sein, dass sie sich nicht über alles liebten. Es ist ganz normal, dass es zwischen Geschwistern gewisse Neidhaftigkeiten gibt. Heini Thyssen erzählte uns, wie sein Vater eines Tages die Zürcher Bahnhofstrasse entlang gelaufen und demonstrativ auf die andere Straßenseite gewechselt sei, als er seinen Bruder Fritz sah. Doch das hatte tatsächlich mehr mit Image als mit Realitäten zu tun. Auch Heini wollte ein Bild des Zwists bestärken, da sich seine, die Thyssen-Bornemisza Seite der Familie bis dahin erfolgreich aus jedweder Diskussion um den Nationalsozialismus herausgehalten hatte. Aber schon ein kurzer Blick auf ein Bild der drei Thyssen-Brüder im Jahr 1938 in unserem Buch und hier zeigt, dass es im Verständnis zwischen Heinrich und Fritz überhaupt kein Problem gab. Statt objektiv zu sein, plappert de Taillez althergebrachte, zu Dogmen erhobene Thyssen-interne Mythen nach. Was „bemerkenswert“ ist, da er doch eigentlich beide Männer als „eine Einheit geradezu komplementärer Gegenfiguren interpretieren“ will, deren „Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarket“ (in dieser Perspektive) als „abgestimmte Strategie politischen Handelns (erscheint)“.

 

Nachdem Heinrich 1926 seine „exorbitante“ Erbschaft gemacht hatte, investierte er über wenige Jahre hinweg massiv in Gemälde und Kunstgegenstände, dem Vorbild seines Freunds Eduard von der Heydt folgend, der im gleichen Jahr in die Schweiz gezogen war. Obwohl seine Sammlung nie dort ansässig war nannte er sie „Sammlung Schloss Rohoncz“, um ihr den Anschein zu geben, als sei sie seit längerem organisch gewachsen und von noblem Format. Als solche ließ er sie 1930 in der Neuen Pinakothek in München ausstellen. Doch Friedrich Winkler von den Staatlichen Museen in Berlin rückte „Thyssen-Bornemiszas Methoden (…) in die Nähe von Napoleons Kunstraub“ und beschrieb ihn als „unbedarft, unwissend, beschränkt und abhängig von Händler- und Expertenurteilen“. Rudolf Buttmann, Abgeordneter der NSDAP im Bayerischen Landtag, nannte die Sammlung gar ein „von Händlern zusammengestelltes Ganzes“. Viele Zuschreibungsfehler und Fälschungen wurden angeprangert, was sich zum regelrechten „Medienskandal“ auswuchs. Die Münchner Pinakotheken zeigten sich, laut de Taillez, nur bei 60 der 428 Bilder nach Ende der Ausstellung bereit, sie vorübergehend in ihren eigenen Beständen zu zeigen.

 

Doch dies waren hochspekulative Zeiten mit einer „zunehmenden Kommerzialisierung des Kunstmarkts“. Allem Aufschrei zum Trotz ging Heinrich Thyssens „Kalkül“ auf, „öffentlich den Wert seiner Sammlung bestimmen zu lassen“ (50 Millionen RM – es ist allerdings nicht ersichtlich wie de Taillez von solch einem „Kalkül“ wissen will). Auch wurde sein Unterfangen als „nationale Tat“ beschrieben „an der ganz Deutschland interessiert sei“. Er sei ein „Retter deutschen Kulturguts“ und mit einem „bürgerlichen Bildungsauftrag“ ausgestattet. Während dessen war auffallend, dass Heinrich nirgendwo als Sohn des bekannten Ruhrindustriellen und Erschaffers des Familienvermögens, August Thyssen, vorgestellt wurde. Stattdessen wurde er als „großer Unbekannter“ gehandelt, als eine Person von ominösem Flair, von der niemand so richtig zu wissen schien, woher sie kam. Es musste gerade genug „Deutschtum“ angeheftet bleiben, um die konservativen Kreise Münchens zufrieden zu stellen, während man die Illusion von Heinrich’s adoptierten Magyarentum aufrecht erhielt. Was bedrückt, ist dass de Taillez dies nicht klar als die offensichtliche Thyssensche Manipulation öffentlicher Wahrnehmung outed, die es war.

 

Die Stadt Düsseldorf und ihr Kunstmuseum, die in den Weimarer Jahren „unter deutschen Großstädten führend“ waren im Hinblick auf ein „hoch entwickelte IInstrumentarium kommunaler Öffentlichkeitsarbeit“ nutzte Heinrich Thyssen über Jahre hinweg aus. Laut de Taillez hielt er sich „für eine so wichtige Persönlichkeit (…), um der lokalen Politik Forderungen zu stellen“. Aber de Taillez behauptet unsinnigerweise, die nationale Verortung Heinrichs in Deutschland wäre einzig und allein aufgrund der Pressearbeit seines Kunstberaters Rudolf Heinemann und des Düsseldorfer Oberbürgermeister Robert Lehr entstanden, und nicht in Heinrichs eigenem Sinn gewesen. Dabei gibt er im gleichen Werk an (siehe oben), dass Heinrich im Ausland „Propaganda im deutschen Sinn“ organisierte. Also verstand er sich sehr wohl als Deutscher, behielt ja auch seinen deutschen Pass (siehe „Die Thyssen-Dynastie“ S. 76 – von Simone Derix bestätigt) und kassierte deutsche Entschädigungszahlungen für Kriegsschäden an seine Firmen (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 256 – von Harald Wixforth bestätigt). Es ist unverständlich, warum de Taillez solch widersprüchliche Aussagen macht; es sei denn, die Kritik an dieser Reihe, sie sei durch die Quelle des Sponsoring – die Fritz Thyssen Stiftung – beeinflusst, könnte berechtigt sein.

 

Felix de Taillez geht weiter als er sollte, in dem er nicht nur existierende Thyssensche Manipulationen verschleiert, sondern sogar neue ins Leben ruft. Er schreibt: „Heinrich (reagierte) insofern auf das Ausstellungsdebakel, als er seine Kollektion danach zu großen Teilen umbaute, dabei die umstrittenen Bilder veräußerte, und somit erst den eigentlichen Durchbruch zu der heute weltbekannte Sammlung schaffte“. Dabei verweist er auf Johannes Gramlich’s Band „Die Thyssens als Kunstsammler“, Seiten 263-273. Dort allerdings wird nur von 32 Bildern gesprochen, die zwischen 1930 und 1937 verkauft worden sein sollen. Thyssen-interne Listen, die uns vorliegen zeigen, dass 405 Gemälde, die Heinrich bis einschließlich 1930 gekauft hatte 1948 von seinen vier Kindern geerbt wurden. Demnach wären theoretisch also nur 23 Bilder zwischen 1930 und 1948 verkauft worden.

 

Es kann demnach absolut keine Rede davon sein, Heinrich habe „seine Kollektion (nach dem Ausstellungsdebakel) ZU GROßEN TEILEN (umgebaut)“ und dabei „DIE umstrittenen Bilder (veräußert)“, was sich so anhört, als habe er ALLE umstrittenen Bilder der 1930er Ausstellung danach verkauft.

 

Das Thyssen-Bornemisza Museum in Madrid enthält noch heute mindestens 120 Bilder aus der Münchner Ausstellung von 1930. Wenn ein „Umbau“ stattfand, dann wurde dieser nicht von Heinrich Thyssen-Bornemisza aktiv durchgeführt, sondern fand passiv nach seinem Tod statt und zwar v.a. durch Erbteilung (1948, sowie 1992 nach dem Verkauf nur einer Hälfte der Thyssen-Bornemisza Sammlung an Spanien – die andere Hälfte ging an die Frau und vier Kinder von Heinrichs Sohn, Hans Heinrich).

 

Auch gab es einen Verkauf deutscher Bilder durch Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza in den 1950er Jahren, der sich nach der Nazi-Era noch stärker als sein Vater von Deutschland absetzen wollte (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 269). Ausserdem wurde Heini Thyssen natürlich ein Kunstsammler auf einer ganz anderen Ebene als sein Vater und kaufte tatsächlich einige sehr gute, v.a. moderne Gemälde.

 

Viele der fragwürdigen, 1930 ausgestellten Bilder sind jedoch in Thyssen-Besitz geblieben. De Taillez’s gegenteilige Behauptung ist irreführend.

 

Man muss auch daran erinnern, dass Heini Thyssen die meisten in der Erbteilung von 1948 verteilten Bilder von seinen Geschwistern zurück gekauft hat, sodass die meisten der fragwürdigen 1930er Bilder in seinem Besitz endeten. Die Einstellung der Thyssens war es immer, dass Bilder, sobald sie einmal in ihrem Besitz waren, nicht mehr hinterfragt werden durften. Darin versuchten sie, das Prestige, welches die Rothschilds besaßen, nachzuahmen. Die Öffentlichkeit und die Medien – die möglicherweise einem VIP-Äquivalent des königlichen Turnus’s unterworfen sind (wonach Journalisten vom Zugang zu Mitgliedern des Königshauses ausgeschlossen werden, wenn sie negative Stories publizieren) – schienen diese Version der Realität meist zu akzeptieren.

 

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Was an diesem Buch und an der Serie auffällt ist, dass sie nicht ein einziges Originalstatement eines lebenden Mitglieds der Thyssen Familie enthällt. Tausende Seiten neuer Geschichte werden zu ihrem Thema geschrieben, und man frägt sich, wie die Thyssens sich wohl fühlen, jetzt da einige der Teller, die über so einen langen Zeitraum hinweg und in so kostspieliger Weise in der Luft jongliert wurden, plötzlich mit einigem Getöse auf den Boden zu fallen drohen.

 

Doch Felix de Taillez wäre nicht Felix de Taillez wenn er uns nicht noch mit einer weiteren schönfärberischen Einschätzung aus dem Reich der Thyssen-Kunst entlassen würde. Verschiedene Kunstberater, Museumsdirektoren und der Baron selbst hatten widersprüchliche Aussagen gemacht, wann genau die Gemälde erstanden worden waren. Waren sie je im Rechnitzer Schloss gewesen, wie es der Name der Sammlung suggerierte? Manchmal hieß es ja, manchmal nein. Die uns vorliegenden Thyssen-internen Listen zeigen, dass das erste Bild von ihm 1928 erstanden wurde und alle Werke bis zur Ausstellung im Jahr 1930 in verschiedenen Depots verwahrt wurden (das Vorwort des Ausstellungskatalogs macht die sehr deutlich – siehe hier). Was allerdings den Baron nicht davon abhielt, manchmal 1906 für seinen ersten Kauf anzugeben, das Jahr seiner Verheiratung nach Ungarn.

 

Und Ähnliches tat sein Rechtsanwalt auch in den 1930er Jahren mit den Schweizer Behörden: „Im Zusammenhang mit Heinrich Thyssen-Bornemiszas Umzug in die Schweiz ist weiterhin bemerkenswert, dass ihm die erste Ausstellung seiner Sammlung in München in finanzieller Hinsicht von Nutzen war. Anlässlich der Einfuhr seiner Gemälde und anderer Kunstgegenstände in die Schweiz diente ihm bei den eidgenössischen Behörden der Hinweis auf die Ausstellung mit besagtem Katalog als Beweis dafür, dass sich rund 250 wertvolle Gemälde schon länger in seinem Besitz befänden. Durch diesen Schachzug gelang es ihm, die Kunstgegenstände ‘zum persönlichen Gebrauch’ zollfrei nach Lugano schaffen zu lassen“.

 

(Der Name von Heinrich Thyssen-Bornemisza’s Tessiner Anwalt war Roberto van Aken, und es war nicht das einzige mal, dass er es für seinen Kunden mit der Wahrheit nicht so genau nahm).

 

Rekapitulatierend: Heinrich Thyssen trickst über seinen geschmeidigen Anwalt die Schweizer Zollbehörden aus, Felix de Taillez applaudiert dies, gibt anscheinend als Grund dafür, dass angeblich nicht 428, sondern 250 Gemälde in die Schweiz geschafft wurden an, der Baron habe die fragwürdigen verkauft und lässt uns gleichzeitig ebenso wie Johannes Gramlich im Dunkeln, wann und wie genau der Transfer der Güter aus Deutschland heraus stattgefunden hat. Da die Sammlung bei der Erbteilung 1948 insgesamt 542 Bilder enthielt lässt de Taillez auch offen, woher die anderen knapp 300 Bilder stammten und wann sie in die Schweiz gekommen sein sollen.

 

Dass die Thyssens selbst sich so intransparent gaben, leuchtet ein. Dass allerdings Akademiker, die 80 Jahre nach den Geschehnissen beauftragt wurden, den Sachverhalt angeblich „unabhängig“ aufzuarbeiten genauso vorgehen, ist nicht hinnehmbar. Zumal kein Mitglied der Familie befragt wurde.

 

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Alles in allem ist Felix de Taillez erstaunlich stur dabei, die Heinrich Thyssen-Bornemisza umgebenden Mythen zu verlängern, während er bei der Presentation von Fritz viel direkter ist. Wir unterstellen nicht, dass die Fritz Thyssen Stiftung oder die Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen die Ergebnisse dieser akademischen Untersuchungen gesteuert haben. Aber die Tatsache, dass Zugang zu Quellen und finanzieller Unterstützung durch diese Einheiten gewährt wurde (in deren Vorständen nur EIN Mitglied der Thyssen Familie sitzt, nämlich Georg Thyssen-Bornemisza, ein Nachfahr von Heinrich, nicht von Fritz) muss die Autoren sicherlich dazu geführt haben, bei ihren Schlussfolgerungen „Vorsicht“ walten zu lassen.

 

Befassen wir uns weiter mit Fritz, so schauen wir nach dem Putsch von General Jose Felix Uriburu 1930 in Argentinien auf ein „undemokratisches Jahrzehnt“, in dem es zu einer „starken ökonomischen Verflechtung mit Deutschland“ kam. Seit den 1890er Jahre, so de Taillez, gab es dort „starke rechtsextreme Bewegungen“ und „bereits vor der Machtübernahme in Deutschland“ fasste die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien „besonders gut Fuß“ (siehe auch „Die Thyssen-Dynastie“, S. 250). Später berichtete die La Plata Zeitung, dass Fritz Thyssen 1930 in der argentinischen Öffentlichkeit die „Morgenröte des kommenden neuen Deutschlands“ unter Hitler ausgemalt habe. Im Argentinischen Tageblatt forderte er 1934 die „unumschränkte Macht der neuen (deutschen) Regierung zur Ankurbelung der Wirtschaft“, was de Taillez „bemerkenswert“ findet, habe er doch „sonst immer auf große Freiräume für the Privatwirtschaft“ bestanden. De Taillez weiter: „Die Machtkonzentration im NS-Staat bot laut Thyssen den wesentlichen Vorteil, Entscheidungen zu trefen, ohne wie im ‘marxistisch verseuchten Parteienstaat’ ‘Halbheiten’ machen und Kompromisse schließen zu müssen“. Wobei Fritz die extremistische Sprache der Nationalsozialisten gegen ihre politischen Feiden verwendete.

 

Während der Gelsenberg-Affäre 1932 gab es Presseberichte, angefeuert vom ehemaligen Reichsfinanzminister Hermann Dietrich, wonach Fritz Thyssen für die Vereinigten Stahlwerke AG ein Geschäft mit französischen und niederländischen Investoren ausgehandelt hätte, welches die Reichsregierung aber verhindern wollte, da sie keinen ausländischen Einfluss auf das Unternehmen wünschte. Indem er einen Brief an die deutsche Öffentlichkeit schrieb, „dass er lediglich Kreditsondierungen vorgenommen habe“, so de Taillez, „stellte er bewusst die Reichsregierung bloß“. De Taillez argumentiert, dass Thyssens Angaben demontiert wurden, als ein Brief von Friedrich Flick an ihn der Frankfurter Zeitung zugespielt wurde, welcher aufzeigte, dass Flick „Thyssens Vorschlag (abgelehnt hatte) gerade wegen der damit verknüpften Geldquelle“. Die Düsseldorfer Volkszeitung brandmarkte ihn daraufhin als „unpatriotisch“.

 

Anfang 1932, während sein Bruder Heinrich die Villa Favorita in Lugano erwarb, schwenkte Fritz „demonstrativ zum Nationalsozialismus um“. Seine Frau war bereits seit 01.03.1931 Parteimitglied, Fritz wurde es offiziell am 07.07.1933. Auf den Ruhrkampf zurückblickend schloss er laut de Taillez, dass dies ein „Vorläufer für das nationalsozialistische Gedankengut des neuen Deutschlands“ war. „Anders als 1923 stehe nun nicht nur das Ruhrgebiet entschlossen da, sondern ganz Deutschland werde den Weg gehen, den der ‘Führer’ vorschreibe. Die Zerschlagung des Marxismus im Innern sei allein Hitler, der SA und der SS zu verdanken“ (aus einem Artikel in der Kölnischen Zeitung, „Fritz Thyssen über den Klassenkampf“, am 02.05.1933).

 

So wurde Thyssen zum „Medialen Akteur“, der dann unter Hitler „erheblich von der Abschaffung der Pressefreiheit“ profitierte, da bald niemand mehr seinen verbalen Roheiten etwas entgegensetzen durfte. In Buenos Aires führte er während dessen Verhandlungen „mit hohen staatlichen Stellen“ wie „General Agustin Pedro Justo, dem nach gefälschten Wahlen seit 1932 amtierenden Staatspräsidenten“. Nachfolgend wurde im November 1934 ein Argentinisch-Deutsches Handelsabkommen samt Verrechnungs- und Kompensationsverfahren unterzeichnet, wodurch der Handel zwischen den beiden Ländern drastisch anstieg. Es scheint, dass Thyssen hier versuchte, einen Gegenpol zur allmächtigen anglo-amerikanischen Wirtschaftsmacht aufzubauen. Felix de Taillez wertet dies allerdings nur dahingehen, der extremst egoistische Fritz habe sich hierin ausschließlich um den Aufbau seines öffentlichkeitswirksamen „Image“ als „einflussreicher Wirtschaftsführer“ gekümmert, um nur für sich persönlich viel öffentliche Beachtung zu finden.

 

Doch nicht die gesamte südamerikanische Presse war den Thyssens hold. Das Argentinische Tagesblatt sprach 1934 von einer „Bindung gemeinsamer Pleiten“, die Anfang 1933 stattgefunden hätte, als die Vereinigten Stahlwerke bankrott und die NSDAP hoffnungslos verschuldet gewesen seien. „Die Zeitung warf der Vereinigten Stahlwerke AG, under Thyssens Ägide als Aufsichtsratsvorsitzender, Bilanzfälschung in erheblichem Ausmaß vor“ (aus dem Artikel „Geschäfte eines Staatsrats“, vom 08.11.1934). Die Kölner Kulturzeitschrift Westdeutscher Scheinwerfer bescheinigte Fritz Thyssen gar eine „Selbstherrschernatur“ und „führte als Hauptgrund für die Krise bei der Vereinigte Stahlwerke AG die problematische persönliche Politik des Fritz Thyssen an“. Seine Kritiker in den Medien „erklärten Fritz Thyssen in wirtschaftlichen und politischen Fragen für unfähig“ und „machten ihn für die hohen Verlust der Vereinigte Stahlwerke AG verantwortlich“.

 

Es war genau das, wovor sein Vater August, der keinerlei gesellschaftliche Ambitionen hatte und ausschließlich für seine Werke lebte, Jahre zuvor gewarnt hatte. Er hatte sicher gestellt, dass sein Sohn Fritz nur Aufsichtsratsvorsitzender, nicht aber Geschäftsführer der Vereinigten Stahlwerke AG wurde, um den Schaden zu mindern, den er der Firma zufügen würde. August glaubte, dass Heinrich nur minimal besser als Fritz geeignet war, das Thyssen Imperium zu führen (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 95).

 

Nach dem Krieg beschuldigten die Alliierten die Vereinigte Stahlwerke AG, die NSDAP finanziell kontinuierlich und vorbehaltlos unterstützt zu haben (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 106). Fritz schleuderte quasi den Ball zurück in die alliierte Hälfte als er 1950 schrieb „Meiner Meinung nach dienten die Nürnberger Prozesse nur dazu, Sündenböcke für Hitlers Kriegspolitik zu finden. Es wäre für die Amerikaner beschämend gewesen, hätten sie zugeben müssen, dass sie die deutsche Wiederaufrüsung von Anfang an unterstützt hatten, weil sie einen Krieg gegen Russland wollten“ (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 294).

 

Was „bemerkenswert“ ist für einen Mann, dessen Ruf von der Glaubwürdigkeit seiner anti-KriegsPosition abhängt: Als die Nationalsozialisten Wilhelm von Keppler und Kurt von Schröder Unterschriften für die Eingabe bei Paul von Hindenburg zusammentrugen, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, war Fritz Thyssen einziges Mitglied der Ruhrlade (Verbindung 12 wichtiger Ruhrindustrieller, die 1928-1939 existierte), der unterschrieb. Im Umgang mit anderen Unternehmern konnte er schroff und unmanierlich sein. Er ermahnte v.a. solche Kollegen zur „Disziplin“ die in seinen Augen „liberalistisch“ agierten. Leute wie Gustav Krupp zu Bohlen und Halbach, der sich bis zuletzt gegen Hitler sträubte und, wie Richard Freudenberg und viele andere auch, sich erst dem Nationalsozialismus ergab, nachdem die Diktatur mit Hilfe der Thyssens und ihrer Gesinnungsgenossen installiert worden war. „Etwaigen Störern“, so de Taillez, „drohte (Thyssen) mit seinem neuen Einfluss auf die zuständigen staatlichen Organe“, i.e. er drohte, sie bei Hermann Göring anzuschwärzen.

 

Dies ist ein Eingeständnis durch den Thyssen Komplex einer hochgradig herrischen Verhaltensweise des Fritz Thyssen die, als solche, tatsächlich bemerkenswert ist.

 

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Selbst katholischen Geistlichen, eigentlich Verbündete, drohte Fritz Thyssen, so zum Beispiel Kardinal Schulte im März 1933, als er verlauten ließ, seine Familie würde dem Gottesdients fernbleiben „solange die ungerechte Behandlung der Führer & Mitglieder der NSDAP andauert“. Er nahm an soziologischen Sondertagungen in Maria Laach unter dem Abt Ildefons Herwegen und dem Kreis ‘anti-demokratischer Rechtskatholiken’ teil, die laut de Taillez zu den Nationalsozialisten „anschlussfähig“ waren. Diese waren „gegen die Aufklärung, die allgemeinen Menschenrechte, Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, dezidiert anti-semitisch“ und für einen „autoritären Korporatismus“. Sie versuchten eine „Reichstheologie“ zu entwickeln, „getragen vom katholischen Akademikerband“.

 

Dies erinnert uns wieder einmal daran, dass Mitglieder der akademischen Berufe, wie z.B. Rechtsanwälte, besonders frühe und begeisterte Anhänger der Nazi Ideologie wurden.

 

Trotz all dieser Drohgebährden behauptet Felix de Taillez – nicht sehr überzeugend -, Fritz Thyssen habe den Nationalsozialismus „konservativ“ ausgelegt. Anscheinend sah er ihn als „Wiedergeburt des verloren gegangenen Staates und der Volksgemeinschaft“. Der Nationalsozialismus sei für ihn keine Weltanschauung gewesen, sondern eine „HELDISCHE KRAFT“, wonach ein „staatstragender Stand von Menschen“ wieder erstanden sei, der den „Kampf gegen die Totengräber des Staates“ aufgenommen haben. – Anklänge an die instrumentalisierenden, proto-faschistischen Veteranenverbände nach Angel Alcalde sind hier deutlich zu vernehmen -. Doch im gleichen Paragraphen enthüllte Fritz Thyssen dann seine elitäre Vorstellung seiner Rolle im Nationalsozialismus, wenn er sagte man würde diesem Stand allerdings „seine Würde und seinen Vorrang nehmen, wenn man versuchen wollte, durch weltanschauliche Propaganda 64 Millionen Menschen in die gleiche Würde hineinzuheben“.

 

Für die Rheinische Zeitung hieß das, Thyssen war ein Faschist, aber „kein Radau-Nazi“. In Wirklichkeit war es so, dass er sich selbst und seine Familie als Teil des Staates, nicht aber als Teil der Volksgemeinschaft sah, die er in einem deutlich untertänigen Rang zu sich und seinen Partnern wähnte. Es hört sich weniger wie eine konservative und mehr wie eine FEUDALE Auslegung des Nationalsozialismus an.

 

Mit dem Ingangkommen der Diktatur bat der Gauleiter von Essen, Josef Terboven, in einem Schreiben an Rudolf Hess, „Thyssen durch den ‘Führer’ zum wirtschaftspolitischen Bevollmächtigten für das Ruhrgebiet ernennen und sein Amt mit unbedingter Autorität ausstatten zu lassen“. Anscheinend gab es ein Power-Dreieck bestehend aus Hermann Göring, Gauleiter Terboven und Fritz Thyssen, dessen mediales Sprachrohr die National-Zeitung war. Fritz Thyssen nahm laut de Taillez an den Nürnberger Reichsparteitagen teil. Er war Mitglied des Zentralausschuss der Reichsbank, der Akademie für deutsches Recht und des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik (siehe auch hier). Bis 1938 hatte Fritz auf sich so viele Aufsichtsratsmandate versammelt, „dass er hinter dem Vereinigte Stahlwerke AG Vorstandschef Albert Vögler und dem Bankdirektor der Berliner Handelsgesellschaft, Wilhelm Koeppel, den dritten Rang der Einzelpersonen (einnahm), die im Zentrum der Netzwerke der reichsweiten Wirtschaftselite positioniert waren“.

 

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Die bahnbrechende These von Felix de Taillez ist, dass es ein langer Weg gewesen sei, bis Fritz Thyssen den Bruch mit den Nazis vollzogen habe: „Die 1948 im Spruchkammer-Verfahren von ihm und Weggefährten vorgebrachten Beteuerungen, sich bereits im Laufe der 1930er Jahre demonstrativ abgewendet zu haben (erscheinen) so nur als vorgeschobene leicht durchschaubare Verteidigunsversuche“. Noch 1936 habe er Hitler in einer Tischrede im Düsseldorfer Industrie-Club geradezu manisch verteidigt und dabei sogar Zitate aus „Mein Kampf“ verwendet. Im gleichen Jahr gab er sich in den Worten des Autors „unbelehrbar“, als er denjenigen, die in der Rüstungspolitik der Nazis Vorboten von Krieg sahen vorwarf, sich zu irren. „Hitler allein sei es zu verdanken“, so Thyssen, „dass Deutschland international wieder als gleichwertiger Partner gesehen werde“. Sowohl Gottfried Niedhart in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als auch der Perlentaucher haben die Interpretation freudig aufgegriffen, Fritz Thyssen sei „keineswegs der mächtige Mann hinter Hitler“, sondern nur „geblendet“ gewesen und habe „wohl wirklich geglaubt, die Aufrüstung diene nicht der Kriegsvorbereitung, sondern dem Ziel, „bündnisfähig zu werden“.

 

Doch weshalb sollte man es glauben, dass ein Mann, dessen Gedankengänge ansonsten so wechselhaft und unzuverlässig waren, ausgerechnet in diesem EINEN, für die deutsche Volksseele so zentralen Punkt (die Befürwortung des Kriegs und der Nazi-Greuel), klar gesehen und wahrhaftig gewesen sein soll? Hört es sich nicht eher wie einen weiteren Versuch an, die lang anhaltende Unterstützung des Nazi-Regimes durch die Thyssens zu verschleiern? Vor allem da Fritz’s angebliches Engagement gegen den Krieg so wichtig für die Fähigkeit der Thyssens war, ihr Eigentum nach dem Krieg von den Alliierten zurück zu erhalten.

 

Und warum, wenn Fritz wusste, wie er 1950 schrieb, dass die Amerikaner Deutschland wiederbewaffnen wollten, um gegen Russland in den Krieg zu ziehen, sagte er sich nicht früher von dieser unheilvollen Allianz los?! Weil auch er einen Krieg gegen die Sowjetunion befürwortete? Oder weil es für ihn wichtiger war, die wirtschaftlichen Gewinne einzufahren, als einen moralischen Standpunkt einzunehmen? Und falls dies so war, wieso geben diese offiziellen Thyssen Biographen weiterhin an, seine Flucht aus Deutschland, als sie denn endlich stattfand, habe einer sittlichen Positionierung entsprochen, nicht einer simplen Bequemlichkeit, wo Fritz doch, so de Taillez, so viele frühere Gelegenheiten versäumt hatte, sich Hitler’s Plänen entgegen zu stellen?!

 

Nachdem Hermann Göring im Sommer 1938 die kriegswirtschaftliche Mobilmachung ausgesprochen hatte, verbreitete Thyssen, so de Taillez, „diese Propaganda durch sein klares Bekenntnis zum Vierjahresplan medial weiter“. Im Februar 1939 wurde er durch Walther Funk, einem Kunden der August Thyssen Bank (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 115) zum Wehrwirtschaftsführer ernannt. Die im Denazifizierungsverfahren vorgebrachten Eingaben, Thyssen „habe sich mit ernsthaften Umsturzgedanken“ getragen und sei mit Widerstandkreisen in Kontakt gewesen bezeichnet de Taillez als müßig, da „verlässliche Quellen fehlen“. Vielmehr bescheinigt de Taillez Thyssen absolute „Tatenlosigkeit“ nach außen bis November 1939, also bis zwei Monate nach Ausbruch des Krieges. Auch bei einer Vorgabe, „nach dem November-Pogrom 1938 habe Thyssen General von Kluge eine enge Kooperation zwischen Industrie und Armee vorgeschlagen, um der NS-Politik ein Ende zu bereiten“ fügt er klärend hinzu: „aufgrund der Quellenlage ist es mehr als fraglich, ob es einen solchen Plan überhaupt gegeben hatte“.

 

Im Prinzip demontiert Felix de Taillez damit komplett die bisher „erfolgreiche Umdeutung“ des Fritz Thyssen zu einem „Bild eines außergewöhnlich frühen ‘fanatischen Gegners’ des Nationalsozialismus, der bereits 1936 im Widerstand aktiv war“, wie sie ab 1948 von Thyssens Rechtsanwalt und PR-Beauftragten Robert Ellscheid herausgegeben worden war (siehe auch hier).

 

Und das ist wirklich „bemerkenswert“!

 

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Laut de Taillez berichtete die englische Presse nach der Flucht Fritz Thyssens in die Schweiz im September 1939, es läge ein internationaler Haftbefehl gegen ihn für Diebstahl, Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Bruch deutscher Währungsrestriktionen vor. Thyssen aber drohte Hitler ausgerechnet mit der internationalen öffentlichen Meinung, während er sich gleichzeitig als „stolzer“ Deutscher „mit jeder Faser seines Seins“ dargestellte. Er wolle „die Unschuld der ‘German nation’ an den Entwicklungen“ aufzeigen, schrieb er, während er gleichzeitig sagte, „das deutsche Volk habe in der Zwischenkriegszeit bewiesen, dass es ‘incapable of adjusting itself to democratic institutions’ sei“ (Selbst während seines Denazifizierungsverfahrens 1948 „stand Fritz Thyssen weiterhin auf dem Standpunkt, dass Demokratie keine geeignete Staatsform für Deutschland sei“!).

 

De Taillez qualifiziert seine Einstellung als „naiv“. „Schizophren“ und „dreist“ wäre aus unserer Sicht eindeutig angebrachter. Typisch für den Thyssenschen Allmachtsglauben ist sicherlich auch, dass Fritz zu meinen schien, der Lauf eines von solch langer Hand geplanten Krieges ließe sich durch ein paar simple Äußerungen seinerseits ändern. Die Tatsache, dass es seinem Bruder Heinrich so elegant gelungen war, über seine ungarische Nationalität und seinen sicheren, bequemen schweizer Wohnsitz, sich aus allem Politischen herauszuhalten und dennoch alle finanziellen Vorteile der Thyssen-Unternehmungen im Krieg zu genießen, muss Fritz immens geärgert haben. Dieser Verdruss mag sogar ein Auslöser seiner Flucht gewesen sein. So erstaunt es auch nicht, dass er keine Rücksicht auf Heinrich’s Stillschweigeabkommen mit den Schweizer Behörden nahm (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 132), das er durch seine laute Flucht gefährdete.

 

De Taillez erläutert nun, dass Fritz Thyssen über „geheime Kanäle“ „Kontakt zu Altkanzler Joseph Wirth und westlichen Agenten“ aufgenommen habe und so „in gewisser Weise Teil von Wirths Sondierungsversuchen mit Frankreich und England“ geworden sei. Dann aber sei General Halder, der „bis dahin Anführer der geheimen militärischen Opposition zum Dritten Reich“ gewesen sei „Anfang 1940 eingeknickt“. Der französische Geheimdient, so de Taillez, vermutete hingegen, „dass Fritz Thyssen Kopf einer weitläufigen Geheimorganisation sei, die Deutschland in der Schweiz aufbaue, um den französischen und britischen Einfluss in Europa zu unterminieren“. Gleichzeitig glaubt de Taillez, „unter normalen Umständen wäre Thyssen die Einreise nach Frankreich während des Kriegs verweigert worden. Sein Glück war, dass er den französischen Geheimdienst in der Schweiz hatte überzeugen können, über wichtige Informationen und Einschätzungen zu verfügen, die den Alliierten im Kampf gegen das Dritte Reich nützten“.

 

Es war stets typisch für die ultra-vermögenden Thyssens, sich bei allen wichtig zu machen. Nur dass es diesmal um Krieg ging. Um Zugehörigkeit ging es den Thyssens nie. Sie waren transnational und nur sich selbst, aber keiner einzigen Nation verpflichtet.

 

Gut ablesen lässt sich das auch aus dem Buch „I Paid Hitler“, welches Fritz Thyssen zusammen mit Emery Reves 1940 verfasste und Letzterer 1941 in London und New York veröffentlichte (siehe auch hier). Reves arbeitete laut de Taillez seit 1937 auch mit Winston Churchill zusammen. 1940 soll Churchill Reves „mit dem Aufbau des britischen Propagandaapparats in Nord- und Südamerika“ beauftragt haben (!). De Taillez weiter: „Reves weihte Churchill in die zentrale These Fritz Thyssen’s zur Wiederherstellung des Friedens in Europa ein, die bald öffentlich proklamiert würde: Deutschlands Teilung“ – und zwar in „ein protestantisches Ostdeutschland und ein katholisches Westdeutschland unter einem Wittelsbacher“. Churchill soll diese Ansichten an seinen Geheimdienstberater Major Desmond Morton weiter geleitet haben – obwohl man hier doch wohl Zweifel hegen könnte, wieviel davon O-Ton Fritz Thyssen gewesen wäre, und wieviel eher britischer Propaganda zuzuschreiben sein mag…

 

Dass Fritz Thyssen auch manchmal „bewusst die Unwahrheit gesagt“ (sprich gelogen) haben könnte, ist etwas, was Felix de Taillez auf Seite 459 im Zusammenhang mit Thyssens Aussagen zur Entstehungsgeschichte von „I Paid Hitler“ in den Raum stellt. Es ist ein Anflug von Ehrlichkeit, die eben auch mit „Ehre“ zu tun hat, und die bei so vielen Aussagen der Thyssens und ihrer offiziellen Biografen bislang sehr vermisst wurde. Nachdem sich Thyssen und seine Anwält von dem Buch distanzierten, bestätigte Reves der Spruchkammer, es sei insgesamt von Thyssen diktiert und zu zwei Dritteln von ihm korrigiert worden. Reves bestritt, ein Ghostwriter zu sein, und bezeichnete sich als Herausgeber und Presseagent. Auch brachte er vor, Anita Zichy-Thyssen habe ihm mehrfach für die Veröffentlichung gedankt. Bis heute preisen die Nachfahren von Anita in Süd-Amerika das Buch an und verunglimpfen jeden, der sich kritisch über Fritz Thyssen äussert (siehe hier).

 

* * *

 

De Taillez hält fest, dass Fritz Thyssen nach seiner Ingewahrsamnahme durch die Alliierten „in Britischen und US-Amerikanischen Wochenschauen als mutmaßlicher Kriegsverbrecher präsentiert“ wurde. Sodann behauptet er: „offenbar taten sich die Amerikaner sowohl mit einer einheitlichen Einschätzung von Thyssens Fall als auch in der Koordination mit den deutschen Behörden noch schwer“. Dies blendet aus, dass der Fall vor allem dadurch erschwert wurde, dass ein Zugriff auf Heinrich Thyssen-Bornemisza in der Schweiz für die Alliierten nicht möglich war und auch, dass es Diskrepanzen zwischen den Briten und den Amerikanern gab, wie die Thyssens zu behandeln seien (die Briten tendierten mehr zu deren Bestrafung). Wilhelmus Groenendijk, der von 1957 bis 1986 dem Finanzmanagement der Thyssen-Bornemisza Gruppe angehörte, erklärte uns gegenüber: „Heinrich wie Fritz waren als Kriegsverbrecher erfasst. Aber von den Niederlanden aus haben wir es geschafft, dass ihre Namen auf der Liste immer weiter nach unten rutschten, bis wir behaupten konnten, dass ihr Vermögen in Wahrheit alliiertes Eigentum sei“ – und daher unmöglich den deutschen Kriegsanstrengungen zugute gekommen sein konnte…. (siehe „Die Thyssen-Dynastie“, S. 240).

 

De Taillez resumiert für Fritz Thyssen dass er sich „trotz erheblicher Differenzen (…) lange Zeit mit dem Dritten Reich arrangierte, da es einen Sockel an Gemeinsamkeiten gab“, nämlich das Ideal des autoritären Staats, die Entmachtung der sozialistischen Arbeiterbewegung und die Revisionspolitik. Dazu kam die Aussicht auf Gewinnsteigerungen der Stahlindustrie. Er schildert dass „der ehemalige Reichskanzler (Heinrich) Brüning (im Nachkriegs-Spruchkammerverfahren gegen Fritz Thyssen) schriftlich erklärte, dass für den Aufstieg Hitlers die Finanzierung aus dem Ausland ausschlaggebend gewesen sei“. Und doch behaupten verschiedene Autoren dieser Serie, inklusive de Taillez, Letzteres sei nichts weiter als eine Verschwörungstheorie. Nichtsdestotrotz macht de Taillez gleichzeitig die bemerkenswerte Feststellung, dass „die oft polarisierenden Äußerungen des Fritz Thyssen in der weltweit am einflussreichsten anglo-amerikanischen Medienwelt bis 1933 positiver bewertet wurden als in der deutschen Öffentlichkeit“ – was doch auf eine Unterstützung des deutschen Rechtsrucks gerade in Großbritannien und den Vereinigten Staaten hinweisen würde.

 

De Taillez schildert Fritz weitaus intimer als Heinrich, und zwar als absurd, agitierend, ambivalent, einflussreich, fast manisch, polarisierend, realitätsfern, eine Reizfigur, selbstüberschätzend, skrupellos, unbelehrbar, uneinsichtig, unklar, ein Unruhestifter, UNSINNIG, zusammenhanglos, zynisch, und, in einer Beschreibung durch Andere, als von einer „mehr als sonderbaren Art“. Viele dieser Charakteristiken treffen sicher auch auf Heinrich zu, denn sie sind nicht zuletzt auf den gierigen Luxus der Familie und die resultierende, hubristische Wirklichkeitsfremdheit zurückzuführen. Nur war Heinrich intelligenter als Fritz und er wusste vor allem, dass man sich in einer gewissen Zurückgezogenheit viel besser tarnen kann, vor allem wenn man in Wahrheit noch skrupelloser ist als sein überlauter Bruder.

 

Felix de Taillez’ Kollege Jan Schleusener („Die Enteignung Fritz Thyssens“) bewertet Fritz Thyssen hingegen als Helden: er sei „der einzige Reichstagsabgeordnete (gewesen), der gegen die Entfesselung des Krieges offen Protest erhob“, was an Thomas Rother’s gleichsam unpassende Aussage erinnert, Thyssen sei der einzige Industrielle in Deutschland gewesen, der an Hitler’s Krieg nicht verdient hätte. Gegenüber Norman Cousins gab Fritz Thyssen, laut de Taillez, anscheinend ein einziges Mal zu, “dass er sich wegen seiner finanziellen Unterstützung Hitlers in den späten 1920er Jahren für den Nationalsozialismus mitverantworlich fühle“. Doch Cousins fiel gleichzeitig unangenehm auf, dass Thyssen „nicht die vielen Verbrechen seit 1933, die politischen Morde, die Zerstörung bürgerlicher Freiheiten und die Verfolgung der Juden als ausschlaggebend für seine Abwendung vom Nationalsozialismus nannte“. Von Heinrich Thyssen-Bornemisza sind zu diesen Thematiken überhaupt keine Äußerungen überliefert.

 

Mehr muss man eigentlich nicht wissen, um einschätzen zu können, ob die angeblich heldenhafte, anti-nationalsozialistische, antimartialische Gesinnung der Thyssens wahrhaftig ist oder ob sie den artifiziellen Diskulpierungen zu verschonender Kriegsprofiteure/-verbrecher (denn sie müssen gewusst haben, dass Hitler’s Krieg ein Vernichtungskrieg sein würde) durch ihre Untergebenen entstammt.

 

Die herausragende Leistung dieses Buches ist es jedenfalls, dass sie die äußerst elitäre Perspektive dargestellt, aus der die Thyssens ihre Rolle im Nationalsozialismus sahen. Bisher ist es der einzige Band der Serie, der nicht nur in akademischen Kreisen, sondern auch in einer der größten deutschen Tageszeitungen besprochen worden ist.

 

Eine ehrliche deutsche Sicht (Foto copyright Lizas Welt:  internet/lizaswelt.net/2011/02/28/volksgemeinschaft-gegen-rechts/

 

 

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Posted in The Thyssen Art Macabre, Thyssen Art, Thyssen Corporate, Thyssen Family Comments Off on Buchrezension: Thyssen im 20. Jahrhundert – Band 6: “Zwei Bürgerleben in der Öffentlichkeit. Die Brüder Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza”, von Felix de Taillez, erschienen im Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2017 (scroll down for English version)

Buchrezension: Thyssen im 20. Jahrhundert – Band 4: ‘Die Thyssens. Familie und Vermögen’, von Simone Derix, erschienen im Schöningh Verlag, Paderborn, 2016 (scroll down for english version)

Dieses Buch zu rezensieren ist für uns ein echtes Ärgernis, da so viele Stränge und Einzelheiten darin unserem bahn-brechenden Werk über die Thyssens entlehnt sind, welches ein Jahrzehnt zuvor erschien, Derix uns nichtsdestotrotz keine einzige Nennung gewährt. Es ist erstaunlich, dass sie nicht genug berufsethisches Gefühl aufbringt, unseren Beitrag zur Thyssenschen Geschichtsschreibung an zu erkennen; vor allem wo sie doch auf einer Konferenz 2009 ausdrücklich erklärt haben soll, dass nicht-akademische Betrachtungsweisen, denen gegenüber die Fachwelt häufig Unbehagen empfände (und Berührungsängste mit der Angst vor Statusverlust im Kampf um Deutungshoheit), einen immer größeren Raum einnehmen.

Frau Derix selbst ist natürlich nicht vom ängstlichen Typ, auch wenn sie ziemlich scheinheilig wirkt. Sie scheint vorauseilenden Gehorsam an den Tag zu legen und voller Hingabe, die Erwartungen ihrer vermutlich parteiischen Zahlmeister in Gestalt der Fritz Thyssen Stiftung erfüllen zu wollen. Leider ist sie offensichtlich auch nicht die vorausschauendste Person, da sie z.B. schreibt, Heinrich Lübke, Direktor der August Thyssen Bank (er starb 1962) sei später Bundespräsident Deutschlands gewesen (jener Heinrich Lübke war in dieser Position bis 1969).

Aber die intellektuellen Unzulänglichkeiten der Simone Derix sind weitaus gravierender als es simple Sachfehler wären, die ohnehin mindestens einem ihrer zwei langjährigen Mitarbeiter, drei Projektleiter, vier akademischen Mentoren und sechs wissenschaftlichen Mitarbeiter hätten auffallen müssen. Sie versucht uns allen Ernstes zu erzählen, dass die Erforschung der Lebenswelten von reichen Personen ein vollkommen neuer Zweig der akademischen Forschung sei, und dessen illustrer Pionier sie selbst. Weiss sie denn nicht, dass Geschichtsschreibung klassischerweise ausschließlich von Reichen, über Reiche und für Reiche getätigt wurde? Hat sie bereits vergessen, dass selbst einfachstes Lesen und Schreiben bis vor hundert fünfzig Jahren Privilegien der wenigen Mitglieder der oberen Schichten waren?

Gleichzeitig erscheint sie, im Gegensatz zu uns, keine persönlichen Erfahrungen mit außergewöhnlich reichen Menschen erworben zu haben. Ihre Förderung, während eines früheren Vorhabens, durch die finanzstarke Gerda Henkel Stiftung war vermutlich gleichermaßen auf Armeslänge. Reiche Leute verkehren nur mit reichen Leuten, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Derix sich irgendwie für ernst zu nehmende Kommentare über deren Lebensstil qualifiziert hätte, es sei denn, sie wurde für ihr vorliegendes Werk pro Wort bezahlt…

Was allerdings tatsächlich neu ist, ist dass der weg gefegte Feudalismus durch etablierte demokratische Gesellschaften ersetzt wurde, in denen Wissen allgemein zugänglich ist und die Gleichheit vor dem Gesetz Priorität hat. Ja, Derix hat Recht, wenn sie sagt, dass es schwierig ist, die Archive von Ultra-Reichen einzusehen. Diese wollen immer nur glorreiche Dinge über sich verbreiten und die Realitäten hinter ihrem überwältigenden Reichtum verbergen. Aber es ist grotesk so zu tun, als hätten die Thyssens jetzt auf einmal beschlossen, sich in Ehrlichkeit zu üben und offiziellen Historikern großzügig zu erlauben, ihre privatesten Dokumente zu sichten. Der einzige Grund, weshalb Simone Derix nunmehr einige kontroverse Fakten über die Thyssens publiziert, ist, dass wir diese bereits publiziert haben. Der Unterschied liegt darin, dass sie unsere Belege mit ausgesprochen positiven Termini neu umspannt, um dem allgemeinen Programm der Schadensbegrenzung dieser Serie gerecht zu werden.

Derix scheint zu glauben, auf diese Weise auf zwei Hochzeiten tanzen zu können; ein Balanceakt der dadurch drastisch erleichtert wird, dass sie bereits zu Anfang ihrer Studie jegliche Erwägungen bezüglich Ethik und Moral kategorisch ausschließt. Die Tatsache, dass die Thyssens ihre deutschen Firmen (inklusive derer, die Waffen produzierten und Zwangsarbeiter verwendeten) hinter internationalen Strohmännern tarnten (mit dem zusätzlichen Bonus der groß angelegten Umgehung deutscher Steuern) wird von Derix als irreführende Beschreibung dargestellt, welche “eine staatliche Perspektive impliziert” und angewandt wird, um “eine gewünschte Ordnung zu etablieren, nicht eine bereits gegebene Ordnung abzubilden”. Als ob “der Staat” eine Art hinterhältige Einheit sei, die bekämpft werden müsse, und nicht das gemeinschaftliche Unterstützungswesen für alle gleichgestellten, rechtstreuen Bürger, so wie wir Demokraten ihn verstehen.

Dies ist nur eine von vielen Äußerungen, die zu zeigen scheinen, wie sehr die möglicherweise als autoritär zu beschreibende Einstellung ihrer Sponsoren auf Derix abgefärbt hat. Die Tatsache, dass Akademiker, die bei öffentlich geförderten Universitäten angestellt sind, in solch einer Weise von den eigennützigen Institutionen Fritz Thyssen Stiftung, Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen und ThyssenKrupp Konzern Archiv als Public Relations Vermittler missbraucht werden, ist äusserst fragwürdig; v.a. wenn man angeblich akademische Maßstäbe anlegt. Und vor allem wenn von diesen behauptet wird, sie seien unabhängig.

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In der Welt von Simone Derix werden die Thyssens immer noch (!) v.a. als „Opfer“, „(Steuer-)flüchtlinge“, als „enteignet“ und „entrechnet“ beschrieben; selbst wenn sie ein oder zwei Mal über 500 Seiten hinweg kurz zugeben muss, dass es ihnen in der “langfristigen Perspektive (…) gelungen zu sein (scheint), Vermögen stets zu sichern und für sich verfügbar halten zu können”.

Was ihre Beziehung zum Nationalsozialismus angeht, so nennt sie sie damit „verwoben“, „verquickt“, sagt, dass sie in ihm „präsent“ waren, in ihm „lebten“. Mit zwei oder drei Ausnahmen werden die Thyssens nie richtiger Weise als handelnde, profitierende, u.v.a. zum Bestand des Regimes beitragende Akteure beschrieben. Stattdessen wird die Schuld wiederum, genau wie in Band 2 („Zwangsarbeit bei Thyssen“), weitgehendst den Managern zugeschrieben. Dies ist für die Thyssens sehr praktisch, da die Familien dieser Männer nicht die Mittel haben, gleichwertige Gegendarstellungen zu publizieren, um ihre Lieben zu rehabilitieren.

Wenn Simone Derix jedoch davon spricht, dass „aus einer nationalstaatlichen Perspektive (…) diese Männer als Ganoven erscheinen (mussten)“, dann überschreitet sie bei Weitem die Grenzen der fairen Kommentierung. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Behauptung verschlimmert sich dadurch, dass sie es unterlässt, Beweise beizufügen, so wie in unserem Buch geschehen, die zeigen, dass alliierte Ermittler klar aussprachen, dass sie die Thyssens selbst, nicht ihre Mitarbeiter, für die wahren Täter und Verdunkler hielten.

Und dennoch gibt Derix in ihrem Streben nach Thyssen Glanz vor, deutsche Größe, Ehre und Vaterlandsliebe zu beschwören. Immer wieder und auf bombastische Weise behauptet sie z.B., dass die Grablege / Gruft in Schloss Landsberg bei Mülheim-Kettwig „zukünftig die Präsenz der Familie und ihre Verbundenheit mit dem Ruhrgebiet garantieren (würde)“, und dass es im Falle der Thyssens einen „(unauflösbaren) (…) Zusammenhang von Familie, Unternehmen, Region und Konfession“ gibt. Dabei stuft sie die Thyssens nicht, wie es richtig wäre, im Rahmen der Industriellen-Familien Krupp, Quandt, Siemens und Bosch ein, sondern zieht es vor, ihren Namen übertreibend mit denen der Herrscherhäuser Bismarck, Hohenzollern, Thurn und Taxis und Wittelsbach zu umgeben.

In Wirklichkeit wählten viele der Thyssen-Erben eine Abkehr von Deutschland und ein transnationales Leben im Ausland. Ihr Mausoleum ist noch nicht einmal öffentlich frei zugänglich. Im Gegensatz zu dem was Derix andeutet, ist der starke, symbolische Name, der so eine Anhänglichkeit in Deutschland hervorruft, einzig der der Aktiengesellschaft Thyssen (jetzt ThyssenKrupp AG), als einem der Hauptarbeitgeber im Land. Dies hat überhaupt nichts mit Respekt für die Abkömmlinge des herausragenden August Thyssen zu tun, die aufgrund ihrer gewählten Abwesenheit in ihrer Mehrzahl in Deutschland absolut unbekannt sind.

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In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Simone Derix die Thyssens als „altreich“ sowie „arbeitende Reiche“ kategorisiert. Obwohl Friedrich Thyssen Anfang des 19. Jahrhunderts bereits ein Bankier war, so waren es doch erst seine Söhne August (75% Anteil) und Josef (25% Anteil), die ab 1871 (und mit den Profiten aus zwei Weltkriegen) durch ihre unermüdliche Arbeit, und die ihrer Arbeiter und Angestellten, das enorme Thyssen-Vermögen schufen. Ihresgleichen ward in den nachfolgenden Thyssen-Generationen nie wieder gesehen.

So wurden die Thyssens ultravermögend und spalteten sich komplett von der etablierten adelig-bürgerlischen Oberschicht ab. Sie können wirklich nicht als „altreich“ bezeichnet werden, und ihre Erben auch nicht, auch wenn diese alles in ihrer Macht taten, um sich die äußere Aufmachung der Aristokratie anzueignen. (Hier stellt sich die dringende Frage, wieso Band 6 der Serie ausgerechnet „Fritz und Heinrich Thyssen – Zwei Bürgerleben in der Öffentlichkeit betitelt wurde). Dies beinhaltete die Einheiratung in den ungarischen, zunehmend falschen Adel, wonach, so muss es sogar Derix zugeben, mit dem Anbruch der 1920er Jahre jeder fünfte Ungar behauptete, der Aristokratie des Landes anzugehören.

Die Linie der Bornemiszas, in die Heinrich einheiratete z.B. waren eben nicht das alte „Herrschergeschlecht“ der Bornemiszas, auch wenn Derix das immer noch so wiederholt. Die Thyssen-Bornemiszas hatten Verbindung zum niederländischen Königshaus, nicht weil Heinrich’s Frau Margit bei Hofe selbsternannt „besondere Beachtung“ fand, sondern weil Heinrich in jenem Land wichtige Geschäftsinteressen vertrat. Dadurch wurde Heinrich Thyssen zum Bankier für das niederländische Königshaus und ein persönlicher Bekannter seines Namensvettern Heinrich, des Prinzgemahls der Königin Wilhelmina.

Außer für solche wirtschaftlichen Beziehungen wollten weder der deutsche, noch der englische oder irgend ein anderer europäischer Adel in Wirklichkeit diese Aufsteiger in ihren engeren Reihen willkommen heissen (Religion spielte natürlich auch eine Rolle, denn die Thyssens waren und sind katholisch). Das heisst, bevor nicht gesellschaftliche Konventionen mit Beginn der 1930er Jahre sich weit genug geändert hatten und ihre Töchter in die tatsächlich alten ungarischen Dynastien der Batthyanys und Zichys einheiraten konnten.

Aber bis dahin ließen sich die Brüder, basierend auf ihrem hervorragenden Reichtum, nicht davon abhalten, sich viele der erhabenen Sphären selbst zu erschließen. Laut Derix verbrachte Fritz Thyssen Anfang des 20. Jahrhunderts sogar Zeit damit, Pferde aus England zu importieren, die englische Fuchsjagd in Deutschland einzuführen und sich eine Hundemeute zur Hetzjagd auf Hirsche zuzulegen. Weiterhin ließ er anscheinend den Trakt für Dienstpersonal seines neu gebauten Hauses in Mülheim niedriger halten, um die „Differenz und Distanz zwischen Herrschaft und Personal“ zu signalisieren.

Dies sind tatsächlich erstaunliche, neue Offenbarungen, die zeigen, dass das traditionelle Bild, welches die Thyssen Organisation bisher herausgab, nämlich das des „Bad Cop“ Fritz Thyssen (deutscher Industrieller, „temporärer“ Faschist), „Good Cop“ Heinrich Thyssen-Bornemisza (Ungar, „Adeliger“) sogar noch irreführender ist, als wir bisher angenommen hatten.

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Wirklich bedauernswert sind die Versuche von Derix, Fritz Thyssen als gläubigen Peacenik und Mitglied einer gemäßigten Partei darzustellen. Und genauso sind es ihre lang anhaltenden Verrenkungen, Heinrich Thyssen-Bornemisza als perfekt assimilierten, ungarischen Gutsherren zu portraitieren. Sie berichtet allerdings, dass Heinrich’s Frau erwähnt hatte, dass er kein Wort der Sprache beherrschte; was allerdings Felix de Taillez in Band 6 nicht davon abhält, zu behaupten, er habe Ungarisch gesprochen. „Wenn Sie sie nicht schlagen können, dann müssen Sie sie verwirren“ war eines von Heini Thyssen’s Mottos. Es ist offensichtlich auch das Motto dieser Thyssen-finanzierten Akademiker geworden.

Währenddessen ist das Buch von Derix das erste von der Thyssen Organisation unterstützte Werk, das bestätigt, dass Heinrich Thyssen-Bornemisza eben doch seine deutsche (damals preussische) Staatsangehörigkeit beibehielt. Derix traut sich sogar soweit hervor, zu sagen, dass die ungarische Staatsangehörigkeit „von Heinrich möglicherweise aus funktionalen Gründen gewählt“ worden war. Doch diese Perlen der Aufrichtigkeit werden unter den Springbrunnen ihrer überschwänglichen Propaganda rasch erstickt, die darauf abzielt, die Thyssens der zweiten Generation besser dastehen zu lassen, als sie waren. Dies erstreckt sich auch darauf, die Rolle des August Thyssen Junior von der des schwarzen Schafs der Familie auf die des engagierten Unternehmers um zu schreiben.

Andererseits unterlässt es die Autorin immer noch, irgendwelche unternehmerischen Details zum Leben des weitaus wichtigeren Heinrich Thyssen in England um die Jahrhundertwende zu liefern (Stichworte: Banking und Diplomatie). Wie genau machte die Familie die enge Bekanntschaft von Menschen wie Henry Mowbray Howard (britischer Verbindungsoffizier beim französischen Marineministerium) oder Guy L’Estrange Ewen (Sonderbotschafter der Britischen Monarchen)? Eine große Chance zur echten Transparenz wurde hier vergeudet.

Derix unterlässt es weiterhin, das Augenmerk darauf zu richten, dass die Familienzweige August Thyssen und Josef Thyssen sich in sehr unterschiedliche Richtungen entwickelten. August’s Erben nützten Deutschland aus, verließen und verrieten es und waren ausgesprochen „neureich“, außer Heinrich’s Sohn Heini Thyssen-Bornemisza und dessen Sohn Georg Thyssen, die sich tatsächlich mit dem Management ihrer Firmen befassten.

Im Unterschied dazu verblieben Josef Thyssen’s Erben Hans Thyssen und Julius Thyssen in Deutschland (bzw. waren bereit dorthin aus der Schweiz zurück zu kehren, als in den 1930er Jahren Devisenbeschränkungen erlassen wurden), zahlten ihre Steuern, arbeiteten im Thyssen Konzern, bevor sie in den 1940er Jahren ihre Anteile verkauften, ihre Resourcen bündelten und berufliche Karrieren einschlugen. Nur Erben Josef Thyssen’s sind auf der Liste der 1001 reichsten Deutschen des Manager Magazins aufgeführt, aber aus unerklärten Gründen lässt Derix diese tatsächlich „arbeitenden reichen“ Thyssens in ihrer Studie weitgehenst unerwähnt.

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Glücklicherweise konzentriert Simone Derix nicht all ihre Kräfte auf schöpferische Erzählungen und Plagiarisierung, sondern bietet auch wenigstens einige politökonomische Fakten an. So legt sie offen, dass Heinrich Thyssen-Bornemisza bis 1933 ein Mitglied des Aufsichtsrats der Vereinigten Stahlwerke in Düsseldorf war, also bis nach Adolf Hitler’s Machtergreifung. Dies, in Kombination mit ihrer Aussage, dass sich Heinrich „bereits 1927/8 (von Scheveningen in den Niederlanden) dauerhaft nach Berlin orientiert zu haben (scheint)“ widerlegt eine der größten Thyssenschen Dienlichkeitslegenden, nämlich die, Heinrich Thyssen-Bornemisza habe ab 1932 seinen Hauptwohnsitz in der neutralen Schweiz gehabt (i.e. praktischerweise vor Hitler’s Machtergreifung); nachdem er „Deutschland noch rechtzeitig verlassen hatte“; obschon dies Derix nicht davon abhält, auch diese Täuschung danach gleichfalls noch zu wiederholen (- „Wenn Sie sie nicht schlagen können, dann müssen Sie sie verwirren“ -).

Tatsache ist, dass Heinrich Thyssen, obwohl er 1932 die Villa Favorita in Lugano (Schweiz) kaufte, weiterhin den Großteil seiner Zeit in verschiedenen Hotels verbrachte, v.a. aber in einer permanenten Hotelsuite in Berlin und ausserdem einen Wohnsitz in Holland beibehielt (wo Heini Thyssen fast allein, bis auf das Personal, aufwuchs). („Sein Tessiner Anwalt Roberto van Aken musste ihn 1936 daran erinnern, dass er immer noch nicht seine permanente Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz beantragt hatte. Erst im November 1937 wurden Heinrich Thyssen und seine Frau mit je einem Ausländerausweis der Schweiz ausgestattet“ – Die Thyssen-Dynastie, Seite 149).

Derix justiert auch den alten Thyssen Mythos neu, wonach Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza geschäftlich kurz nach ihrer Erbschaft von ihrem Vater, der 1926 starb, geschäftlich getrennte Wege gegangen seien. Wir haben stets gesagt, dass die beiden Brüder bis tief in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eng miteinander verbunden blieben. Und simsalabim plötzlich gibt Derix nunmehr an: „Bisher wird davon ausgegangen, dass die Separierung des Vermögens von Heinrich Thyssen-Bornemisza und Fritz Thyssen 1936 abgeschlossen war“. Sie fügt hinzu: „Trotz aller Versuche, die Anteile von Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza voneinander zu separieren, blieben die Vermögen von Fritz und Heinrich (vertraglich geregelt) bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg miteinander verschränkt“.

Aber es ist ihr folgender Satz, der am ärgerlichsten ist: „Außenstehende konnten diesen Zusammenhang offenbar nur schwer erkennen“. In Wahrheit war die Situation deshalb so undurchsichtig, weil die Thyssens und ihre Organisation erhebliche Anstrengungen unternahmen und alles ihnen Mögliche taten, um die Dinge zu verschleiern, v.a. da dies bedeutete, dass sie die gemeinsame Unterstützung des Naziregimes durch die Thyssen Brüder tarnen konnten.

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Unter der großen Anzahl der Berater der Thyssens stellt die Autorin insbesondere den Holländer Hendrik J Kouwenhoven vor, und zwar als die Hauptverbindung zwischen den beiden Brüdern Fritz und Heinrich. „Er tat Chancen auf und erdachte Konstruktionen“, so schreibt sie. Kouwenhoven arbeitete seit 1914 bei der Handels en Transport Maatschappij Vulcaan der Thyssens und danach bei ihrer Bank voor Handel en Scheepvaart (BVHS) in Rotterdam seit ihrer offiziellen Gründung 1918 bis zu seiner Entlassung durch Heinrich Thyssen-Bornemisza im zweiten Weltkrieg.

Vermögensverwaltungsgesellschaft und Trust Department der BVHS war das Rotterdamsch Trustees Kantoor (RTK), welches Derix als „Lagerstätte für das Finanzkapital der (Thyssen) Unternehmen wie für die privaten Gelder (der Thyssens)“ beschreibt. Sie sagt nicht, in welchem Jahr diese Gesellschaft gegründet wurde. Laut Derix wurden „das Gebäude der Vermögensverwaltung, der Heinrich Thyssen-Bornemisza alle wichtigen Papiere anvertraut hatte (…), am 14. Mai 1940 bei einem Luftangriff auf Rotterdam (…) vollständig zerstört“. Für uns klingt das wie eine höchst fragwürdige Information.

Über die Akten der BVHS sagt Derix knapp: „Von der BVHS ist kein geschlossener Quellenbestand erhalten“. Wie praktisch, insbesondere da niemand außerhalb der Thyssen Organisation jemals in der Lage sein wird, diese Aussage wahrhaft unabhängig zu überprüfen; zumindest nicht bevor der Schutzmantel des Professor Manfred Rasch, Leiter des ThyssenKrupp Konzern Archivs, sich in den Ruhestand verabschiedet.

Derix spielt auf die „frühe Internationalisierung des (Thyssen) Konzerns“ ab 1900 an, und rechnet ihre Kenntnisse über Rohstoffankäufe und den „Aufbau eines eigenen Handels- und Transportnetzes“ Jörg Lesczenski zu, der zwei Jahre nach uns publizierte, und dessen Buch ebenfalls, so wie das von Derix, durch die Fritz Thyssen Stiftung unterstützt wurde. Aber sie unterlässt Querverweise auf die ersten Steueroasen (inklusive der der Niederlande), die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts hin entwickelten und überlässt diesen Bereich bequem zukünftiger Forschung, die „weitaus intensiver“ ausfallen müsse „als dies bislang vorliegt“.

Derix nennt die Transportkontor Vulkan GmbH Duisburg-Hamborn von 1906 mit ihrer Filiale in Rotterdam (siehe oben) und die Deutsch-Überseeische Handelsgesellschaft der Thyssenschen Werke mbH in Buenos Aires von 1913 (übrigens: bis zum heutigen Tage ist die ThyssenKrupp AG im großen Stil im Rohmaterialhandel aktiv). Sie schreibt auch, dass die US-Amerikanischen Kredite für den Thyssen Konzern 1919 via der Vulcaan Coal Company begannen (verschweigt jedoch, dass diese Firma in London angesiedelt war).

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Nach Angaben von Simone Derix begann August Thyssen 1919 damit, seine Anteile an den Thyssen Unternehmen an seine Söhne Fritz und Heinrich zu übertragen, zunächst die von Thyssen & Co. und ab 1921 die der August Thyssen Hütte. Sie fügt hinzu, dass „bestehende Thyssen Einrichtungen im Ausland für Tausch und Umschichtung von Beteiligungen“ genutzt wurden.

Ab 1920 kaufte Fritz Thyssen in Argentinien Land. Die Thyssensche Union Banking Corporation (UBC), 1924 im Harriman Building am Broadway, New York, gegründet, wird währenddessen allein in der Sprache der „transnationalen Dimension des Thyssenschen Finanzgeflechts“ beschrieben und als „die American branch“ der Bank voor Handel en Scheepvaart.

Wir hatten bereits in unserem Buch beschrieben, wie Heinrich Thyssen-Bornemisza, über Hendrik Kouwenhoven, in der Schweiz 1926 die Kaszony Stiftung institutierte, um seine ererbten Firmenanteile zu deponieren; und 1931 die Stiftung Sammlung Schloss Rohoncz, als Depot für seine Kunstgegenstände, die er ab 1928 als leicht bewegliche Kapitalanlagen kaufte. Jetzt schreibt Derix, dass letztere ebenfalls bereits 1926 gegründet worden sei. Dies ist estaunlich, da es bedeutet, dass dieses Finanzinstrument ganze zwei Jahre bevor Heinrich Thyssen das erste Gemälde kaufte, gegründet wurde, das seinen Weg in die Sammlung fand, die er „Sammlung Schloss Rohoncz“ nannte (obwohl keines der Bilder jemals auch nur in die Nähe seines ungarischen, dann österreichischen Schlosses fand, in dem er ab 1919 nicht mehr lebte).

Die Terminierung der Bildung dieses Offshore-Instruments zeigt einmal mehr wie gekünstelt Heinrich Thyssen’s Neuerfindung als „Kunstkenner und Sammler“ tatsächlich war.

Derix gibt sogar freimütig zu, dass die Thyssenschen Familienstiftungen als „Gegenspieler (…) von Staat und Regierung auftraten“. Jedoch versäumt sie es, genauso wie Johannes Gramlich in Band 3 („Die Thyssens als Kunstsammler“) die Logistik des Transfers von ca. 500 Bildern durch Heinrich Thyssen-Bornemisza in die Schweiz in den 1930er Jahren zu beschreiben, inklusive der Tatsache, dass dies eine Methode der großangelegten Kapitalflucht aus Deutschland heraus darstellte. Die assoziierten Themen der Steuerflucht und Steuerumgehung bleiben vollständig außerhalb ihres akademischen Radars, und sie lässt damit z.B. unsere dokumentierten Belege aus.

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In einer weiteren, wagemutigen Um-Schreibung der offiziellen Thyssen Historie erklärt die Autorin, dass die Thyssen Brüder in ihren Finanzangelegenheiten oft parallel agierten. Und so kam es, dass die Pelzer Stiftung und Faminta AG von Kouwenhoven für Fritz Thyssen’s Seite in der Schweiz gegründet wurden. (Derix bleibt vage bestreffs genauer Daten. Wir haben veröffentlicht: 1929 für Faminta AG und die späten 1930er Jahre für die Pelzer Stiftung).

Derix weist darauf hin, dass diese beiden Finanzinstrumente auch geheime Transaktionen zwischen den zwei Thyssen Brüdern erlaubten. Vage bleibend fügt sie hinzu, sie hätten auch „das Auslandsvermögen der August Thyssen Hütte vor einer möglichen Beschlagnahmung durch deutsche Behörden (gesichert)“. Dabei verschweigt sie jegliche Referenz betreffs Zeitskala, und demnach wann genau solch eine Beschlagnahmung im Raum getanden haben soll (gibt sie hier etwa zu verstehen, dass diese bereits vor Fritz Thyssen’s Flucht aus Deutschland im September 1939, also im Zeiraum 1929-1939 zu erwarten gewesen sein könnte?).

Gleichzeitig etablierten Fritz und Amelie Thyssen einen festen Standort in den 1920er Jahren im Süden des deutschen Reiches, und zwar in Bayern (weit weg vom Thyssenschen Kerngebiet der Ruhr), welchen Derix als „bisher von der Forschung wenig beachtet“ darstellt. Natürlich war dieser monarchistischste aller deutschen Staaten nicht nur nah an der Schweiz, sondern er war zu jener Zeit auch die Wiege der Nazi Bewegung. Auch Adolf Hitler zog München Berlin vor.

Alle Finanzinstrumente der Familie wurden währenddessen weiter durch die Rotterdamsch Trustees Kantoor in den Niederlanden verwaltet. Diese „neu geschaffenen Banken, Gesellschaften, Holdings und Stiftungen wurden über Beteiligungen mit den produzierenden Thyssenschen Unternehmen verknüpft“, so Derix weiter.

Diese Unternehmen usw. waren aber ebenso mit der aufsteigenden Nazi Bewegung verknüpft, so z.B. durch einen Kredit von ca. 350,000 Reichsmark, den ihre Bank voor Handel en Scheepvaart ca. 1930 der NSDAP gewährte, zu einer Zeit, als sowohl Fritz Thyssen als auch Heinrich Thyssen-Bornemisza beherrschende Anteile an der BVHS hatten.

Laut Derix war es im Jahr 1930, dass Heinrich Thyssen anfing, seine Anteile an den Vereinigten Stahlwerken an Fritz zu verkaufen, während Fritz seine holländischen Anteile an Heinrich verkaufte. In der Nachfolge war Heinrich Thyssen dann allein in Kontrolle der Bank voor Handel en Scheepvaart, und zwar von 1936 an.

Insbesondere war es eine Thyssen Firma mit Namen Holland-American Investment Corporation (HAIC), die Fritz Thyssen’s Kapitalflucht aus Deutschland ermöglichte. Laut Derix erwarb die Pelzer Stiftung „im Herbst 1933 von Fritz Aktien der HAIC und damit seine darin zusammengefassten niederländischen Beteiligungen. Dieses Geschäft geschah mit Zustimmung der deutschen Behörden, die von der HAIC wussten. Aber 1940 sahen die Deutschen, dass eine erhebliche Diskrepanz bestand zwischen 1,5 Millionen Reichsmark der niederländischen Beteiligungen in HAIC wie angegeben, und dem tatsächlichen Wert von 100 bis 130 Millionen RM.“

Dies ist überwältigend, da der heutige Wert dieser Summe bei vielen hundert Millionen Euros liegt!

Wenn man bedenkt, dass Heinrich’s Frau angab, dass er ca. 200 Millionen Schweizer Franken seines Vermögens in neutrale Länder gebracht hatte, dann würde dies bedeuten, dass die Thyssen Brüder es möglicherweise geschafft hatten, zusammen einen Gegenwert in Bar aus Deutschland abzuziehen, der fast dem gesamten Geldwert der Thyssen Unternehmen entsprach! Dies aber ist keine Schlussfolgerung, die Simone Derix zieht.

Man beginnt, sich zu wundern, was eigentlich zur Beschlagnahmung übrig gewesen sein soll, nachdem Fritz Thyssen bei Kriegsbeginn 1939 Deutschland verließ. Derix räumt ein, dass seine Flucht nicht zuletzt deshalb stattfand, weil er seine eigennützigen Finanztransaktionen lieber von der sicheren Schweiz aus, mit Hilfe des Heinrich Blass bei der Schweizerischen Kreditanstalt in Zurich, vervollständigen wollte.

Obwohl wir einige Hinweise auf Summen herausarbeiten konnten, so hatten wir doch keine Ahnung, dass das Gesamtausmaß der Kapitalflucht durch die Gebrüder Thyssen so dramatisch war. Dass Simone Derix diesen Punkt im Namen der Thyssen Organisation anspricht ist beachtenswert; selbst wenn sie es unterlässt, die angemessenen Schlussfolgerungen zu ziehen – möglicherweise da diese ihrem „Blue-Sky“ Auftrag zuwiderlaufen würden.

Fürwahr und in den Worten des weitaus erfahreneren Harald Wixforth steht für diese „Großkapitalist(en) (…) tatsächlich (…) das Profitinteresse des Unternehmens immer über dem Volkswohl“.

Es versteht sich von selbst, dass wir die Bände von Harald Wixforth und Boris Gehlen über die Thyssen Bornemisza Gruppe 1919-1932 und 1932-1947 mit Interesse erwarten.

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In diesem korrigierten offiziellen Licht überrascht Derix’s Zugeständnis, dass Fritz und Amelie Thyssen’s „Enteignung (…) jedoch nicht unmittelbar mit einer Einschränkung der Lebensführung verbunden (war)“ nun wirklich überhaupt nicht mehr.

Die Autorin gibt auch zum ersten Mal offizielle Abreisedaten für Fritz Thyssen’s Tochter Anita, ihren Ehemann Gabor und ihren Sohn Federico Zichy nach Argentinien bekannt. So fuhren sie anscheinend am 17.02.1940 an Bord des Schiffs Conte Grande von Genua in Richtung Buenos Aires. Um sie mit der standesgemäßen finanziellen Rückendeckung auszustatten waren kurz zuvor Anteile der Faminta AG in den Übersee-Trust Vaduz transferiert worden, dessen einzige Begünstigte Anita Zichy-Thyssen war, die die ungarische Staatsbürgerschaft besaß.

Derix schreibt sodann, dass Fritz Thyssen im April 1940 „sein politisches Wissen über das Deutsche Reich und die deutsche Rüstungsindustrie als ein Gut (einbrachte), das er im Tausch gegen die Unterstützung seiner Anliegen anbieten konnte“. Was aber genau waren diese Anliegen? Der hochmütig wahnhafte Fritz glaubte offensichtlich, dass er Hitler genauso einfach loswerden könne, wie er ihm einstmals zur Macht verholfen hatte. Dafür war er bereit, deutsche Staatsgeheimnisse mit dem französischen Außenminister Alexis Leger und dem Rüstungsminister Raoul Dautry in Paris zu teilen. Aber für Derix ist dieses Verhalten keinesfalls etwas Strittiges wie z.B. aktiver Landesverrat oder ein Ausdruck der Macht, sondern nichts weiter als das legitime Recht eines Ultra-Reichen, die Wahlmöglichkeiten seines gehobenen Lebensstils auszudrücken.

Während alle vorangegangene Thyssen Biografen, mit Ausnahme von uns, behauptet haben, die Thyssens hätten unausprechliche „Qualen“ während ihrer Inkarzeration in Konzentrationslagern erlebt, bestätigt Derix nunmehr unsere Information, dass sie die meiste Zeit ihrer Inhaftierung in Deutschland im bequemen, privaten Sanatorium des Dr Sinn in Berlin-Neubabelsberg verbrachten. Derix schreibt, sie seien dort „auf Befehl des Führers“ und „auf Ehrenwort“ gewesen. Dabei gab Fritz und Heinrich’s persönlicher Freund Hermann Göring während seiner alliierten Befragungen nach dem Krieg an, er habe diese privilegierte Behandlung initiiert. Nach Neubabelsberg wurden sie in verschiedene Konzentrationslager gebracht, aber Derix ist nunmehr gezwungen einzugestehen, dass sie sich jeweils eines Sonderstatuses erfreuten, der „an allen Aufenthaltsorten belegbar“ sei. Was die Frage aufwirft, warum deutsche Historiker es in der Vergangenheit für nötig erachtet haben, diese Fakten falsch darzustellen.

Derix’s Liste der alliierten Befragungen des Fritz Thyssen nach dem Krieg ist besonders bemerkenswert. Sie illustriert, mit welchem Ernst er der, wenn auch Unternehmens-bedingten, Kriegsverbrechen beschuldigt wurde; genug um ihn mit Inhaftierung zu bestrafen:

Im Juli 1945 wurde er ins Schloss Kransberg nahe Bad Nauheim gebracht, und zwar zum sogenannten Dustbin Zentrum für Wissenschaftler und Industrielle der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte. Im August kam er nach Kornwestheim, und im September zum 7th Army Interrogation Center in Augsburg.

Derix erwähnt auch vage, Fritz Thyssen sei irgendwann 1945 durch Robert Kempner, Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, befragt worden.

Thyssen erlitt einen Kollaps und musste sich in ärztliche Behandlung begeben. Er wurde ins US Gefangenenlager Seckenheim gebracht, danach nach Oberursel. Sein Gesundheitszustand verschlimmerte sich. Von April bis November 1946 war er in verschiedenen Krankenhäuser und Kuranstalten zwischen Königstein (wo er eine unerwartete Besserung erlebte) und Oberursel. Ab November 1946 war Fritz Thyssen als Zeuge bei den Nürnberger Nachfolgeprozessen (man nimmt an, in den Fällen von Alfried Krupp und Friedrich Flick) geladen, während er weiterhin ständig Krankenhausbehandlungen erhielt, diesmal in Fürth.

Am 15.01.1947 wurde Fritz Thyssen entlassen und vereinigte sich wieder mit seiner Frau Amelie in Bad Wiessee. Danach kam sein deutscher Entnazifizierungsprozess in Königstein, wo er und Amelie im Sanatorium des Dr Amelung wohnten. In diesem Gericht, wie es seinem unaufrichtigen Charakter entsprach, gab Fritz Thyssen an, keinen Heller zu besitzen.

Währenddessen, so Derix, trat Anita Zichy-Thyssen mit Edmund Stinnes in Kontakt, der in den USA lebte, und mit dessen Schwager Gero von Schulze-Gaevernitz, einem engen Mitarbeiter des US Geheimdienstchefs Allen Dulles. Im Frühjahr 1947 traf sie sich, um „eine Ausreisegenehmigung ihrer Eltern nach Amerika zu erwirken“, mit dem früheren US-Senator Burton K Wheeler in Argentinien, der 1948 nach Deutschland reiste „um Fritz Thyssen aus seinen Denazifizierungsschwierigkeiten zu helfen“. Dies ist sicherlich ein Aspekt einer Einflussnahme auf höchster Ebene, die wir mit weitaus größeren Einzelheiten in unserem Buch präsentiert haben, die aber Johannes Bähr in seinem Band 5 der Serie („Thyssen in der Adenauerzeit“) erstaunlicherweise vollkommen unterschlägt.

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Ein anderer Thyssen, der Probleme mit seiner Entnazifizierung gehabt haben sollte, dies aber nicht tat, war Heinrich’s Sohn Stephan Thyssen-Bornemisza.

Während sein Bruder Heini Thyssen im Deutschen Realgymnasium in Den Haag erzogen wurde, war Stephan auf das Internat Lyceum Alpinum in Zuoz, Schweiz, gegangen, wo die meisten Schüler aus der deutsch-sprachigen Schweiz, den Niederlanden und dem deutschen Reich stammten, bzw. Auslandsdeutsche waren. Demnach gab es in diesem Internat drei Schülerhäuser, mit den Namen „Teutonia“, „Orania“ und „Helvetia“. Nachdem er in Zurich und am Massachusetts Institute of Technology studiert hatte wurde er Assistent in einem Forschungslabor der Shell Petroleum Company in St. Louis. Dann schrieb er an der Universität Budapest seine Doktorarbeit und begann in der Lagerstättenforschung zu arbeiten.

Ab 1932, während er in Hannover lebte, arbeitete Stephan für die Seismos GmbH, eine Firma, die sich mit der Suche nach Bodenschätzen befasste. Sie wurde 1921 durch die Deutsch-Lux, Phoenix, Hoesch, Rheinstahl und die Gelsenkirchener Bergwerks AG gegründet. Derix schreibt: „Ab 1927 war die Gelsenkirchener Bergwerks AG, die wiederum zur 1926 gegründeten Vereinigte Stahlwerke AG gehörte, mit 50 Prozent der Anteile der Haupteigner des Unternehmens. Damit fiel Seismos unter Fritz Thyssens Teil des familialen Erbes. (…) In den 1920er Jahren waren die Messtrupps der Seismos für Ölfirmen wie Royal Dutch Shell oder Roxana Petroleum in Texas, Louisiana und Mexiko auf der Suche nach Öl. (…) Ihr Aktionsradius (weitete) sich auch auf den Nahen Osten, Südeuropa und England aus“.

1937 kaufte Heinrich Thyssen die Seismos für 1.5 Millionen Reichsmark und gliederte sie seinen Thyssenschen Gas- und Wasserwerken an. Während des Krieges, so Derix, war die Firma „an der Erschließung der Rohstoffe in den besetzten Gebieten beteiligt. (…) Beim Verlassen der Ostukraine im Zuge der Panzerschlacht von Kursk 1943 (musste sie) zahlreiches Gerät (…) zurücklassen“.

Hier liegt also einiges an Bedeutung vor für eine Firma, von der bisherige offizielle Thyssen Historien, wenn überhaupt, wenig Relevantes zu berichten hatten.

Und einiges an Bedeutung auch für den verschwiegenen Heinrich Thyssen-Bornemisza, dessen Sohn Heini Thyssen kurz nach Kriegsende seinen Schweizer Rechtsanwalt Roberto van Aken zu folgender Falschaussage gegenüber der US amerikanischen Visabehörde veranlasste: „Seit dem Aufstieg der Nazis an die Macht, insbesondere seit 1938, waren Dr Heinrich Thyssen-Bornemiszas niederländische Unternehmen angehalten, die Aufrüstungsbestrebungen der Nazis zu unterlaufen.“ (Die Thyssen-Dynastie, Seite 265)

Es ist fast in diesem gleichen, verschleiernden Geiste, dass Derix immer noch die Tatsache verbirgt, dass Seismos während des Kriegs sein Hauptquartier von Hannover in den Harz verlegte, wo das Nazi Programm der Massenvernichtungswaffen (V-Waffen) sein Zentrum finden sollte.

Derix deckt auf, dass Stephan ein Mitglied des NS-Fliegerkorps war und bestätigt seine Rolle als förderndes Mitglied der SS. Seine politische Haltung war anscheinend als „ohne jeden Zweifel“ beschrieben worden. Doch bringt es Derix nicht fertig, seine Involvierung in eine weitere Firma, nämlich die Maschinen- und Apparatebau AG (MABAG) Nordhausen auch nur zu erwähnen, geschweige denn dabei ins Detail zu gehen, die ebenfalls im Harz ansässig war.

Wir hatten bereits herausgefunden, dass Stephan Thyssen in den ersten Kriegsjahren Aufsichtsratsvorsitzender der MABAG geworden war. Diese Firma hatte, zusammen mit der IG Farben, „die Anlage eines ausgedehnten Höhlen- und Tunnelsystems im Kohnstein, einem Berg bei Nordhausen (begonnen), ausgestattet mit Tanks und Pumpen (…) Ab Februar 1942 empfahl Reichminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer, den Bau von Raketen mit allen Mitteln zu unterstützen. Das war ein extrem ehrgeiziger Waffenherstellungsplan und bedeutete erheblich mehr Aufträge für die MABAG, die unter Aufsicht der Wehrmacht jetzt auch Turbopumpen für die V-Waffen produzierte“. (Die Thyssen Dynastie, S. 203).

Wir hatten angenommen, dass Stephan’s Position als Vorsitzender der MABAG mit einer größeren Investition seitens seines Vaters zusammengehangen haben muss. Simone Derix spricht das Thema überhaupt nicht an, aber der Rechtsanwalt und Historiker Frank Baranowski hat ein sehr wichtiges Dokument gefunden und erklärt auf seiner Webseite:

„1940 stieß der Deutsche Erdöl-Konzern nach einem Wechsel an der Spitze alle seine Werke, die nicht direkt in den Rahmen der Mineralöl- und Kohlegewinnung passten ab, darunter auch die MABAG. Von der Deutschen Bank vermittelt, ging das Aktienkapital von einer Million RM in verschiedene Hände über. Die Mehrheit erwarb Rechtsanwalt und Notar Paul Langkopf aus Hannover (590.000 RM), und zwar vermutlich im Auftrag eines Mandanten, der ungenannt bleiben wollte. Kleinere Anteile hielten die beiden Außenstellen der Deutsche Bank in Leipzig (158.000 RM) und Nordhausen (14.000 RM) sowie Stephan Baron von Thyssen-Bornemisza in Hannover (50.000 RM). Am 14. September 1940 wählte die MABAG ihren neuen Aufsichtsrat: (…) Direktor Schirner (…), Paul Langkopf, Stephan Baron von Thyssen-Bornemisza und der Leipziger Bankdirektor Gustav Köllman (…) (Die MABAG sah sich ……..als reiner Rüstungslieferant und produzierte…… u.a. Granaten, Granatwerker …………und Turbopumpen für die A4-Raketen).“

Wie durch Zufall ist Paul Langkopf nun ausgerechnet ein Mann, dessen Dienste verschiedene Mitglieder der Familie über die Jahre in Anspruch genommen hatten. Es kann davon ausgegangen werden, dass der „anonyme“ Aktionär Stephans Vater Heinrich Thyssen-Bornemisza war. Die Geheimhaltung der Transaktion entspricht komplett seinem Stil. Und während Baranowskis Ansichten über die Verwendung von Zwangsarbeitern bei der MABAG und unsere auseinander gehen, so ist dieses von ihm erschlossenen Dokument doch ein weiterer Hinweis dafür, dass Heinrich während des Krieges definitiv 100% pro-Nazi war; während er sich anscheinend aus der Welt verabschiedet hatte und weit weg in seinem sicheren, Schweizer Hafen weilte, so wirkend, als hätte er mit gar nichts etwas zu tun.

Die große Simone Derix zieht es während dessen vor, sich auf relativ Triviales zu konzentrieren, so wie die Tatsache dass Stephan’s Mutter Margit ebenfalls, mit ihrem zweiten Mann, dem „germanophilen“, „antisemitischen“ Janos Wettstein von Westersheimb (der nach der Kriegswende 1943 seinen Job bei der Ungarischen Botschaft in Bern plötzlich verlor) während des Kriegs in der Schweiz lebte. Anscheinend hat sie sich nach dem Krieg für Stephans Ausreise aus Deutschland eingesetzt, und zwar bei keinem Geringeren als Heinrich Rothmund, der während des Kriegs für weite Teile der anti-jüdischen Asylpolitik der Schweiz verantwortlich war.

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Schließlich bearbeitet Simone Derix noch zwei Themen in ihrem Buch – die wir auch behandelt haben, wenn auch zu einem verschiedenen Grad -; nämlich 1.) Die Golddeponierung der Thyssens in London vor dem Krieg und was damit während bzw. nach dem Krieg geschah und 2.) Die Entfernung der Thyssenschen und niederländisch königlichen Aktienzertifikate aus der Bank voor Handel en Scheepvaart in Rotterdam, deren Unterbringung in der August Thyssen Bank in Berlin während des Krieges und ihre Rückführung nach Rotterdam nach dem Krieg, in einer illegalen Aktion durch eine Niederländischen Militärmission unter der Tarnbezeichung „Operation Juliana“. Wir werden diese Themen angemessener bei unseren Besprechungen der Bände von Jan Schleusener, Harald Wixforth und Boris Gehlen analysieren.

In beiden Fällen spielten Mitglieder und Mitarbeiter der Thyssen Familie fragwürdige Rollen, indem sie ihre hochrangigen (diplomatischen und anderweitigen) Positionen ausnutzten, um es den Thyssens zu ermöglichen, in ihrer Gier nach grenzenlosem persönlichen Vorteil, eine Gastnation gegen die andere auszuspielen. Simone Derix führt ihre kritische Analyse hier nur so weit, dass sie sagt, diese Einmischungen hätten es kleineren Staaten wie den Niederlanden oder der Schweiz erlaubt, Siegermächte des zweiten Weltkriegs unter Druck zu setzen, um ihre eigenen nationalen Interessen am Vermögen der Thyssens zu wahren.

Während unser Buch ein mögliches „Handbuch der Revolution“ genannt worden ist, beschreibt Derix ihres als Model, bei dem „Die Thyssens (…) den Weg (…) für zentrale Suchrichtungen einer (…) Geschichte der Infrastruktur des Reichtums (weisen können)“. Sie lässt die Antriebskraft des „Neids“ à la Ralf Dahrendorf anklingen, während sie das Konzept der „Wut“ der Öffentlichkeit an der ständigen Inanspruchnahme rechtlicher Immunität durch die Super-Reichen außer Acht lässt, wie sie z.B. von Tom Wohlfahrt beschrieben worden ist.

Simone Derix’s Schreibstil ist sehr klar und während der Lesung im Historischen Kolleg in München verwandelte die sonore Stimme der speziell engagierten Sprecherin des Bayerischen Rundfunks, Passagen zu anscheinend tief in Rechtschaffenheit eingelegter Literatur. Aber diese Akademikerin, die von Professor Margit Szöllösi-Janze dem Publikum als „Spitzenforscherin“ angepriesen wurde, gibt sich selbst definitiv mehr Autorität darin, historische Urteile zu fällen, als es ihr gegenwärtig zusteht.

Während des nachfolgenden Podiumsgesprächs mit dem Historiker und Journalisten Dr Joachim Käppner von der Süddeutschen Zeitung, wies Derix die Konzepte von Macht und Schuld im Namen der Thyssens kategorisch zurück. Während sie dies tat, musste sie allerdings wiederholt durch Käppner vorangeleitet werden, um ihre äusserst stockenden Antworten zu fokussieren, die, nichtsdestotrotz, den Anschein gaben, vorher abgesprochen worden zu sein.

Wir hoffen, dass Simone Derix nicht die einzige Mitwirkende der Serie bleibt, die Antworten zu diesen Fragen formuliert – Aber dann vielleicht mit mehr Aufrichtigkeit, wenn nicht größerer Unabhängigkeit von der möglicherweise befangenen Fritz Thyssen Stiftung.

Fritz Thyssen und Hermann Göring in Essen, copyright Stiftung Ruhr Museum Essen, Fotoarchiv

Heinrich Thyssen-Bornemisza und Hermann Göring beim Deutschen Derby, 1936, copyright Archiv David R L Litchfield

Batthyany-Clan, ca. 1930er Jahre, dritter von links Ivan Batthyany, Ehemann von Margit Thyssen-Bornemisza, copyright Archiv David R L Litchfield

Hendrik J. Kouwenhoven, Bevollmächtigter für Heinrich Thyssen-Bornemisza, copyright Stadsarchief Rotterdam

Drei Thyssen Brüder vereint: von links Heinrich Thyssen-Bornemisza, August Thyssen Junior, Fritz Thyssen, Villa Favorita, Lugano, September 1938, copyright Archiv David R L Litchfield

 

Stephan Thyssen-Bornemisza mit Ehefrau Ingeborg, Hannover, ca. 1940er Jahre (Foto Alice Prestel-Hofmann, Hannover), copyright Archiv David R L Litchfield

Thyssen Bank voor Handel en Scheepvaart Rotterdam, Jahresbericht 1930, copyright Archiv David R L Litchfield

Thyssen Bank voor Handel en Scheepvaart Rotterdam, Aufsichtsrat und Verwaltungsrat 1929, copyright Archiv David R L Litchfield

Thyssen Bank voor Handel en Scheepvaart Rotterdam, Schalterraum, copyright Archiv David R L Litchfield

Thyssen Bank voor Handel en Scheepvaart Rotterdam, 1929, Empfangsraum, copyright Archiv David R L Litchfield

Thyssen Bank voor Handel en Scheepvaart Rotterdam, 1929, Stahlkammern, copyright Archiv David R L Litchfield

 

 

 

 

 

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Thyssen Provenienz à la Terlau oder Die Kunst der Akademischen Unfähigkeit

Nach Ablauf von 10 Monaten seit der Veröffentlichung von Johannes Gramlich’s Buch über „Die Thyssens als Kunstsammler“ ist nunmehr die erste offizielle Rezension erschienen – verfasst von Dr Katja Terlau, einer deutschen Kunsthistorikerin, die sich auf Provenienzforschung spezialisiert – und zwar online auf der Rezensionsplatform Sehepunkte sowie in der Kunstzeitschrift Kunstform.

Das Schockierendste an diesem Beitrag ist, dass die Rezensentin es bei drei unterschiedlichen Gelegenheiten versäumt, die klare Unterscheidung zwischen den Sammlungen Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza (sowie später Hans Heinrich) zu formulieren, und diese statt dessen wie eine einzige Sammlung behandelt. Man kann nur hoffen, dass Dr Terlau in ihrer Provenienzforschungsarbeit sorgfältiger vorgeht und muss sich nebenbei auch über den Standard von „Sehepunkte“ und „Kunstform“ wundern, die solch eine fehlerhafte Rezension veröffentlichen!

Generell handelt es sich um eine begeisterte Einschätzung eines Buches, das ein „unabhängiger Historiker“ geschrieben haben soll, der „durch die Fritz Thyssen Stiftung und die Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen gefördert“ wurde. Genauso „unabhängig“, so nimmt man an, wie Katja Terlau selbst, die 2001, gefördert durch eben diese Fritz Thyssen Stiftung in Köln, ein Kolloquium unter dem Titel „Museen im Zwielicht – Ankaufspolitik 1933-1945“ im Wallraf-Richartz-Museum in Köln organisiert hat.

In einer überschwänglichen Art, ähnlich der von Johannes Gramlich selbst, beschreibt Dr Terlau die Thyssens als „namhaft“, „erfolgreich“, „einflussreich“ und „hervorragend vernetzt“, und dass sie dank ihrer „Leidenschaft“, „Kunstliebe“ und ihres „besonderen Gespürs“ eine „prachtvolle“, „herausragende“ und „hochwertige“ Sammlung erwarben (nicht weil Letzteres stimmt – es stimmt nicht – sondern weil die Thyssens schwer-reich und große Sponsoren der akademischen Welt sind, wodurch manche Menschen extrem geblendet und leichtgläubig werden).

Dr Terlau’s Fähigkeiten der kritischen Analyse erreichen einen Tiefpunkt, wenn sie von der „insgesamt prägenden Zeit für die gesamte Sammlungsentwicklung“ schwärmt, als Heinrich Thyssen „allein“ zwischen 1926 und 1936 „rund 50 Millionen Reichsmark“ ausgab, um „über 500 Gemälde“ zu kaufen. Die Erklärungen in Gramlich’s Buch, dass Heinrich’s Nachfolger Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza in den 1960er und 1970er Jahren mindestens 125 dieser besagten Bilder wieder stillschweigend abgestoßen hat, lässt sie dabei unerwähnt. Und auch dass viele Experten zur Zeit der ersten Ausstellung von Heinrich’s Sammlung 1930 in München dieser so kritisch gegenüberstanden, dass teilweise bis zu 400 der Gemälde als qualitativ fragwürdig eingeschätzt wurden.

Aber es gibt hier auch einige Lichtblicke, z.B. kritisiert Dr Terlau richtigerweise die Tatsache, dass die Kunstobjekte „häufig nur mit Künstlernamen….und selten mit dem Titel angegeben (sind), sodass eine eindeutige Identifizierung der Werke meist nicht möglich ist“. Sie wirft Gramlich auch vor, „verschiedene Bestandslisten der Kunstwerke“ zu erwähnen, „ohne sie jedoch wenigstens in Auszügen zu zitieren“. Auch verwende er ihrer Einschätzung nach „auch ältere und sehr allgemeine Literatur (…), die dem aktuellen Forschungsstand nicht mehr gerecht wird“!

Dr Terlau kritisiert ebenfalls Gramlich’s „Bewertung des Materials, etwa bei den Marmorskulpturen Rodins oder gar von Keramikkunst“, die „aus kunsthistorischer Sicht (…) sehr fragwürdig“ sei, obwohl unklar ist, was dies genau heissen soll. Eine Erklärung bleibt aus. Sie bemängelt, Gramlich habe bei seiner Bewertung des Kunsthandels „den Handlungsgegenstand (nicht) konkreter berücksichtigt“. Es gehe hier immerhin um „Sammlungsobjekte, deren Handel von zahlreichen Faktoren und Persönlichkeiten abhängt und daher sehr schwer fassbar ist“ – wobei Dr Terlau den Leser wiederum im Dunkeln lässt, was genau sie damit aussagen will.

Ihre Aussage jedoch, Gramlich’s Einschätzung „Die nationalsozialistische Inbesitznahme der Kunst ist vergleichbar mit dem wachsenden Kunstinteresse des Bürgertums im 19. Jahrhundert“ „mutet (…) sehr befremdlich an“, ist von uns absolut nachvollziehbar, ist es uns doch beim Lesen der Passage in Gramlich’s Buch ebenso ergangen.

Es ist nur schade, dass Dr Terlau es versäumt, auch auf andere „befremdliche“ Elemente in Gramlich’s Buch hinzuweisen, wie z.B. der Tatsache, dass die Thyssens von der Zerschlagung jüdischer Sammlungen profitierten und dass sie Kunst für ihre persönliche Selbstverherrlichung und Steuervermeidung ausnutzten. Von der unmoralischen Teilquelle des Vermögens, welches für ihre Kunstkäufe verwendet wurde, ganz zu schweigen (Waffenproduktion, Zwangsarbeit).

Alles in allem empfiehlt Dr Terlau Johannes Gramlich’s Buch als „hervorragend“ und als „breite Grundlage für viele weitere Forschungsansätze“. Was jedoch das Thema Thyssen angeht, so dürfte dies wohl nicht in der Entscheidungskraft der akademischen Welt liegen, sondern vielmehr in der der „einflussreichen“, „hervorragend vernetzten“ Thyssens und ihrer Organisationen, mit ihrer Kontrolle über entscheidende Quellen und ihrer finanziellen Macht.

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Buchrezension: Thyssen im 20. Jahrhundert – Band 2: “Zwangsarbeit bei Thyssen. ‘Stahlverein’ und ‘Baron-Konzern’ im Zweiten Weltkrieg”, von Thomas Urban, erschienen im Schöningh Verlag, 2014.

Wenn es ein Thema in dieser Serie von akademischen Abhandlungen über die Firmen, politischen Ansichten, den persönlichen Reichtum, die Beziehungen zur Öffentlichkeit und die Kunstsammlung(en) der Thyssens gibt, bei dem Feingefühl und Offenheit gefragt gewesen wären, dann ist es dieses eine. In der Tat spiegeln die ensetzlichen Bedingungen, unter denen Ausländer (Sowjetische Staatsangehörige, Franzosen, Niederländer, Belgier, etc.) während des zweiten Weltkriegs in Thyssen Unternehmungen, und der Produktion von Waffen und Munition im Besonderen, arbeiten mussten deutlich die unmenschlichen Auswüchse des Nationalsozialismus wider. Die Rezension fällt ob des wichtigen Themas etwas länger aus.

30 Jahre nach Ulrich Herberts bahnbrechenden Arbeiten zur Zwangsarbeit und sieben Jahre nach Erscheinen unseres Buches blieb die Thyssen Familie bis jetzt eine von sehr wenigen, die sich beharrlich weigerten, diesen Teil ihrer Geschichte offen anzusprechen. Stattdessen hat sie immer behauptet, weitgehenst unbeteiligt an der Herstellung von Waffen und Munition und der Verwendung von Zwangsarbeitern gewesen zu sein. Sie behauptete auch, Hitler nicht unterstützt zu haben, oder ihre Unterstützung nach einer gewissen Zeit eingestellt zu haben. Sie ging sogar so weit, sich selbst auf eine Stufe mit den Verfolgten des Regimes zu stellen, in dem sie behauptete, selbst auch verfolgt und enteignet worden zu sein.

Ausserdem behauptete der Thyssen-Bornemisza Zweig der Familie, ungarischer Nationalität zu sein, und mit Deutschland überhaupt nichts zu tun zu haben. Aber dies waren alles falsche Behauptungen, die darauf ausgerichtet waren, die Aufmerksamkeit von den Fakten abzulenken. Und makabrer Weise war es gerade diese „kosmopolitische“ Seite der Dynastie, die die Nazis ganz besonders unterstützt hat, durch Finanz- und Bankgeschäfte, durch die Produktion von U-Booten und V-Waffen-Teilen, und durch eine persönliche Verbindung mit der SS und hoch-rangingen Nationalsozialisten. Über 1.000 KZ-Häftlinge starben in Bremen beim Bau des „Valentin“ Bunkers, in dem Heinrich Thyssen-Bornemisza’s Bremer Vulkan Werft eine Steigerung der Produktion auf 14 U-Boote pro Monat plante, um im Angesicht Hitler’s drohender Niederlage einen verzweifelten deutschen Endsieg zu erringen.

Angesichts ihrer weitgreifenden industriellen und finanziellen Macht und Sonderstellung hatten Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza eine überwältigende Verantwortung, sich ihren Mitbürgern gegenüber respektvoll zu verhalten. Wir glauben, dass sie in dieser Stellung aufgrund ihrer unerschöpflichen Gier, ihres finanziellen Opportunismus und ihrer unmoralischen Arroganz scheiterten. Von allen Thyssen-Erben ist jetzt anscheinend nur einer, nämlich GEORG THYSSEN-BORNEMISZA, bereit, die Verantwortung einzugestehen, indem er dieses Projekt unterstützt. Aber diese kläglichen 170 Seiten mit unvollständigem Register (nur Personen, nicht Unternehmen, was die Analyse so schwierig macht) sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein in der Korrektur des offiziellen Bildes und halten einer internationalen Begutachtung nicht Stand.

Thomas Urban akzeptiert die Zulässigkeit unserer Biografie nicht und meint immer noch behaupten zu müssen, dass das Thema Zwangsarbeit in den Darstellungen zur Thyssen-Geschichte bis Anfang des 21. Jahrhunderts „unberücksichtigt“ blieb. In Wahrheit scheint es, dass das Thema mit Absicht unterdrückt wurde, so weit dies möglich war, um unerwünschte Aufmerksamkeit und mögliche Schadenersatzforderungen abzuwenden. Es ist auch der Grund, weshalb die Thyssen-Bornemisza Seite der Familie bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unseres Buches von der akademischen Forschung ferngehalten wurde (was Dr Urban als „verwunderlich“ beschreibt).

Als Michael Kanther speziell für die August Thyssen Hütte 1991 über Zwangsarbeit schrieb konnte er anscheinend bis 2004 nicht publizieren, und dann in den “Duisburger Forschungen”. Und zehn Jahre später werden aus der großen Fülle von Thyssen Unternehmungen nur einige wenige als schuldig preisgegeben, nämlich die Werften Bremer Vulkan und Flensburger Schiffsbaugesellschaft, das Kohlebergwerk Walsum und die August Thyssen Hütte.

Die Press- und Walzwerk AG Reisholz und die Oberbilker Stahlwerke werden nur flüchtig erwähnt, aber nicht die Beteiligung an der Produktion von V-Waffen oder eine Zusammenarbeit mit der MABAG (Maschinen- und Apparatebau AG) Nordhausen, wo Heinrich’s Sohn Stephan Thyssen-Bornemisza mit der SS zusammen arbeitete und 20,000 KZ-Häftlinge ums Leben kamen. Eine interessante Information ist jedoch, dass der technische Direktor der Press- und Walzwerk AG Reisholz, Wilhelm Martin, „in seiner Eigenschaft als ‘Abwehrbeauftragter’ einen ‘politischen Stoßtrupp’ aus Betriebsangehörigen eingerichtet“ haben soll, „der im Falle möglicher Unruhen in der Belegschaft, mit so genannten Totschlägern bewaffnet, zum Einsatz kommen sollte“ – anscheinend der einzig bekannte Fall einer solchen Einrichtung in der gesamten Nazi-Rüstungswirtschaft. Es ist ein erstaunliches Eingeständnis.

Als deutsche Arbeiter in den Krieg zogen wurden sie durch insgesamt 14 Millionen Zwangsarbeiter, ersetzt, darunter auch Frauen und Kinder und in Thyssen Unternehmen arbeiteten diese in Verhältnissen zwischen einem Drittel und einem erstaunlichen zwei Drittel (in der Zeche Walsum, wie wir als Erste berichteten) der Gesamtbelegschaft. In Anbetracht der Größe der Thyssen Konzerne müssten dort insgesamt bis zu mehrere zehntausend Zwangsarbeiter gearbeitet haben, aber Dr Urban versucht noch nicht einmal, eine ungefähre Gesamtziffer zu ermitteln. Stattdessen wird das jämmerliche Schwarze-Peter-Spiel mit Krupp weiter geführt, wonach die Bezeichnung „Zwangsarbeiter“, die durchweg in diesem Buch benutzt wird, plötzlich zu „Sklavenarbeiter“ wird, sobald der Name Krupp fällt. Währenddessen verliert sich die jetzt angeführte Tatsache, dass bei Thyssen in Hamborn viel größere Mengen an Granatstahl hergestellt wurden als bei Krupp in Rheinhausen im Kleingedruckten.

In der August Thyssen Hütte und dem Thyssen Werk Mülheim, die mehr zum Einflussbereich Fritz Thyssen’s gehörten, dessen Macht durch seine privilegierte Haft während des Krieges nicht so vollständig eingeschränkt war wie diese offiziellen Thyssen Veröffentlichungen es uns immer noch weismachen wollen, heisst es, habe es eine „hohe Sterblichkeit“ bei sowjetischen Kriegsgefangenen gegeben. Aber die von Dr Urban erwähnten Zahlen übersteigen nie acht oder weniger für die wenigen Zwischenfälle, die er beschreibt.

Wegen der Rassenideologie wurden sowjetische Kriegsgefangene, von KZ-Häftlingen abgesehen, am schlechtesten behandelt, bis zu einem Punkt, wo diese in Heinrich Thyssen-Bornemisza’s Bremer Vulkan Werft, aus Furcht vor Sabotage, so Dr Urban, zunächst in einem Stacheldrahtkäfig festgehalten wurden, wo andere sie „wie die Affen (im Zoo anguckten)“. (Diese Information kam von einem Schulprojekt in Bremen aus dem Jahr 1980 und wurde von Dr Rolf Keller von der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten in Celle an Dr Urban weiter gegeben). Aber trotz solcher verstörender Ausprägungen eines extremen Rassismus hatten Gesten der Humanität von seiten der Ortsansäßigen gegenüber den Gefangenen stattgefunden, wie unsere Lektorin beim Asso Verlag Oberhausen, Ulli Langenbrinck, uns vor Jahren schilderte, aus dem einfachen Grund, dass sie unter gefährlichen Bedingungen (z.B. in Kohlegruben und an Hochöfen) zusammen arbeiten mussten und es daher besser war, rücksichtsvoll gegenüber Menschen zu sein, von denen das eigene Leben abhängen konnte.

Leider bringt es Thomas Urban fertig, zu suggerieren, solche Erinnerungen könnten nichts weiter als Spiegelungen nachträglicher Dienlichkeit sein und man fragt sich, ob er jemals nachgedacht hat, wie es wohl gewesen sein musste, unter Bedingungen zu arbeiten, wo die rassische, ideologische und nationale Diskriminierung die sowieso schon schwierigen Arbeitsverhältnisse nochmals erheblich erschwerten. Bedingungen, die wegen größenwahnsinnigen Politikern und gleichsam größenwahnsinnigen Industriellen existierten und von denen die Menschen vor Ort genau wussten, dass sie kontra-produktiv waren. Sicherlich brauchte es nicht den Anblick von KZ-Häftlingen, um demoralisiert zu sein – Dr Urban sagt, dies sei in jener Zeit behauptet worden – von denen anscheinend „75“ beim Bremer Vulkan selbst verwendet wurden (was eine weitaus angenehmere Zahl ist als die 1,000 oben erwähnten Todesopfer). Die irrsinnige Situation, die man erlitt, wenn man ob des Schicksals der im fernen Feld stehenden eigenen „Herrenmenschen“ bangen musste, während die „untermenschlichen“ Feinde deren Waffen und Munition daheim produzierten muss schon verstörend genug gewesen sein, um Menschen zu demoralisieren – und zwar für beide Seiten!

Am anderen Ende der Skala werden die Thyssens, die in der Vergangenheit mit ihren geschichtlichen Aufzeichnungen „sparsam“ umgegangen sind, mit Glacéhandschuhen angefasst, was eine fortgesetzte Mentalität der Sympathie und Unterwürfigkeit bezeugt, die weit über alles geht, was man von einer sogenannten unabhängigen akademischen Beauftragung erwarten sollte. Selbst eine Rezensentin der Universität Duisburg-Essen, Jana Scholz, scheint zu hinterfragen, wieso das einzig Richtige nicht getan wurde, nämlich die Verantwortung eindeutig bei den Thyssens zu verorten. Statt dessen wird die Verwendung und Behandlung von Zwangsarbeitern Lagerführern, Vorarbeitern und Managern angelastet, Menschen wie Wilhelm Roelen und Robert Kabelac, und man fragt sich, was deren Familien wohl davon halten. Vor allem im Fall Roelen, da in der Ruhr eine Bewegung gegen die Erinnerung an ihn aufgekommen ist, nachdem nachgewiesen wurde, dass unter seiner Aufsicht mehr als 100 sowjetische Kriegsgefangene in der Zeche Walsum umgekommen sind. Signifikanter Weise sind keine Familienmitglieder dieser Manager befragt worden. Und auch keine Mitglieder der Thyssen Familie.

In einer anderen Rezension fragt sich Jens Thiel, der es als Experte in Medizinethik besser wissen müsste, allen Ernstes ob es sich heutzutage noch lohnt, mit Forschungen zum Thema Zwangsarbeit „wissenschaftliche Meriten“ zu ernten. Er preist die „nüchternen Beschreibungen“ in diesem Buch. Es ist aber absolut nicht nachvollziehbar, was nüchtern an der Beschreibung von hungernden Russen sein soll, die rohen Fisch essen, der durch Bomben getötet wurde, nachdem sie mitten im Winter in den eisigen Fluss gesprungen waren, um ihn einzusammeln. Oder an der Erinnerung von Ortsansässigen, wie sie als Kinder sahen, wie Leiterkarren aus einem Thyssen-Werk herausgefahren wurden, bei denen auf der Seite Beine und Arme heraushingen und sie sich beissend fragten, ob diese Menschen tot oder noch lebend waren.

Oder an der Beschreibung von Galgen, die vor dem Zehntweglager des Thyssen-Werks Mülheim aufgestellt wurden (welches von einem besonders sadistischen Vater-Sohn-Team von Kommandanten regiert wurde) und sowjetische Jugendliche dort für Diebstahl „in Anwesenheit eines Gestapo-Mannes und eines SS-Unteroffiziers“ in apokalyptischen Szenarien gehängt wurden – wiederum beobachtet von ortsansässigen Kindern. Alle drei Beschreibungen entstammen persönlichen Befragungen, die Dr Urban bei Zeitzeugen durchgeführt hat und die eines der wenigen rettenden Elemente dieses Buches sind. Er beschreibt auch andere Opfer, darunter Frauen, die in Thyssen-Werken erschossen wurden, z.B. wegen Diebstahls von Nahrungsmitteln.

Obwohl dieses Buch darauf nicht eingeht steht es ausser Frage, dass Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza mit den außerordentlichen Mitteln aus dem Schaffenswerk ihres genial-dementen Vaters äußerst privilegierte Lebensstile führten. Beide blickten rückwärts und sahen sich als feudale Oberherrn, die ihre ganz privaten Lehnsgüter regierten. Sie waren entschlossen, Arbeiterrechte konsequent zu bekämpfen, egal ob diese nun Deutsche oder Ausländer waren. Deshalb unterstützten sie den Faschismus, inklusive des Regimes von Admiral Horty in Ungarn. Deshalb finanzierten sie auch ihr SS-requiriertes Schloss Rechnitz im Burgenland, wo Heinrich’s Tochter Margit Batthyany während des Krieges ihr ganz eigenes Terror-Regime führte und in eine Greueltat an über 180 jüdischen Zwangsarbeiter im März 1945 verwickelt war, die bis zum heutigen Tag in keiner offiziellen Thyssen Publikation Erwähnung findet.

Die Thyssen Manager reichten diesen autokratischen Führungsstil nach unten weiter, während sie die gleichzeitigen Kriegsanforderungen der Sieges-wichtigen Plansolls und Gewinnerwartungen der Eigentümer zu erfüllen versuchten. Sie adressierten die Mahnung „Wenn Du nicht spurst, Farge (ein Arbeitserziehungslager in der Nähe von Bremen) ist dichtebei!“ sowohl an deutsche wie auch ausländische Arbeiter. Aber letztere waren immer mehr benachteiligt weil die Nazis das Führerprinzip durch alle Schichten hindurch anwendeten, sodass jeder Deutsche automatisch zum Boss seines nächsten ausländischen Arbeiters wurde. Ausländer mussten auch schwerere, gefährlichere Arbeiten verrichten und hatten schlechtere Rationen, Unterkünfte und Luftschutzvorkehrungen. Während eines großen Luftangriffs auf das Thyssen Werk in Hamborn am 22.01.1945 waren 115 der 145 Todesopfer Kriegsgefangene. Im Ausländerlager der Thyssen-Bornemisza Zeche in Walsum fanden ein Staatsarzt und ein Nazi-Funktionär bei ihrer Visite 1942 solch untragbaren hygienischen Zustände vor, dass sie das Thyssen Management beorderten, sofortige Abhilfe zu schaffen.

Die Ertragskraft der Thyssenschen Kriegsproduktion und speziell des Schiffbaus wird erwähnt, doch Thomas Urban sagt überprüfbare Zahlen seien „nicht verfügbar“. Aber einige dieser Zahlen sind in den Protokollen der Vorstandssitzungen enthalten, welche vierteljährlich in Flims, Davos, Lugano und Zurich stattfanden (nicht lapidar „in der Schweiz“ – mit anderen Worten Heinrich war nicht zu krank, um herum zu reisen, er wollte nur nicht mehr aus der Schweiz ausreisen; aus Gründen des Komforts, nicht weil er “anti-Nazi” war) mit vier Beteiligten (Baron Heinrich, Wilhelm Roelen, Heini Thyssen und Heinrich Lübke, dem Direktor der August Thyssen Bank Berlin – wobei die letzten zwei von Urban heruntergespielt werden). Und die Mitschriften wurden nicht von einem anonymen „Privatsekretär“ angefertigt sondern aller Wahrscheinlichkeit nach von Wilhelm Roelen, was erklärt, dass sich Kopien sowohl im Unternehmens- wie auch im Privatarchiv befinden. Wir sind sicher, dass sich auch noch weitere relevante Informationen zur Profitabilität im ThyssenKrupp Archiv wie auch im Archiv der Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen befinden, zum Beispiel im Nachlass von Dr Wilhelm Roelen, welche aber aus irgend einem Grund nicht veröffentlicht werden.

Es wird hier auch behauptet, dass „sich Thyssen-Unternehmen nach heutigem Kenntnisstand während der NS-Zeit (keine) ‘arisierte(n)’ Betriebe aneigneten“. Aber in Wirklichkeit wurde Heinrich’s Rennstall Erlenhof bei Bad Homburg für ihn im November 1933 von seinem Finanzinstrument Hollandsch Trust Kantoor aus dem Nachlass des Juden Moritz James Oppenheimer gekauft, der zuerst in den Konkurs getrieben und danach ermordet wurde. Eine sehr unangenehme Jahreszahl, wenn die offizielle Aussage immer war und immer noch ist, dass Heinrich Thyssen-Bornemisza ab 1932, also vor der Machtergreifung Hitlers, in der Schweiz lebte.

Der Autor versucht, einen Punkt zur Entlastung von Heinrich Thyssen-Bornemisza heraus zu arbeiten, indem er sagt, dieser sei nie bei Veranstaltungen in seinen Werken zugegen gewesen, wenn z.B. „Auszeichnungen durch das NS-Regime“ stattfanden. Aber während Heinrich nach 1938 die Schweiz nicht mehr verlassen haben mag so erzählte uns doch sein Sohn Heini, dass er 1942 für die Feierlichkeiten zum 100ten Geburtstag seines Großvaters nach Schloss Landsberg gereist war, an denen auch Nazi-Funktionäre teilnahmen (Bilder der Veranstaltung existieren). Danach konnte er ungehindert in die Schweiz zurückreisen. Aber dieser Vorfall bleibt hier unerwähnt, vermutlich weil man die unternehmerische Verstrickung Heini Thyssens während des Krieges nicht publik machen will.

Thomas Urban besitzt weiterhin die Kühnheit, zu unterstellen dass der Kontakt zwischen Heinrich Thyssen-Bornemisza und Hermann Göring „wohl auf den Pferdesport beschränkt“ gewesen sei und dass er „diesem Regime wohl nicht nur geografisch distanziert gegenüberstand“. Als ob Heinrich’s privilegierte Position in der Schweiz etwas sei, was in diesem Zusammenhang auch noch Bewunderung verdiene. Diese willkürliche Einschätzung durch einen deutschen Akademiker für diesen entscheidenden Punkt ist eine regelrecht obszöne Behauptung und tief abstoßend sowohl für die Erinnerung an die Opfer wie auch für alle Menschen, denen an der historischen Wahrheitsfindung gelegen ist.

Die Bankkontakte zwischen beiden Männer persönlich und mit dem Regime generell über Heinrich’s August Thyssen Bank in Berlin (welche später in der BHF-Bank aufging), seine Union Banking Corporation in New York und seine Bank voor Handel en Scheepvaart in Rotterdam und andere bleiben bisher in dieser Serie absolut unerwähnt. Wir nehmen an, das wird sich mit dem Buch von Simone Derix über das Vermögen und die Identität der Thyssens (Erscheinungsdatum 2016) oder mit Harald Wixforth’s Arbeit über die Thyssen Bornemisza Gruppe (Erscheinungsdatum unbekannt) ändern.

Man mag es als verständlich ansehen, dass die Thyssens in der Vergangenheit ihre Verbindungen zu Nazi Führern geleugnet und ihre Manager gleichfalls so argumentiert haben, um nach dem Krieg einer Vergeltung durch die Allierten zu entgehen, dass aber im Jahr 2014 ein solches akademisches Projekt immer noch in der selben Art über die wichtigsten Punkte der Aufarbeitung der Thyssen Geschichte hinweg geht ist unentschuldbar. Es ist ebenfalls unklar, wieso Dr Urban bei wichtigen Punkten so vage bleibt, wie z.B. bei der Frage der Entlohnung der Zwangsarbeit. Diese erwähnt er, gibt aber keinerlei Details, was unentschuldbar ist.

Immer und immer wieder erwähnt Dr Urban Probleme mit Quellen und dass es deshalb unmöglich sei, das Thema mit der nötigen Subtanz und Gewissheit zu behandeln. Seine Aussage dass „man in den Baustoffwerken (der Thyssens), zumal im Berliner Raum, durchaus einen höheren Anteil an Zwangsarbeitern vermuten“ kann ist inakzeptabel, zumal gesagt wird, die relevanten Archive seien „noch im Aufbau“, was 70 Jahre nach Kriegsende eine unglaubliche Aussage darstellt, auch wenn es eine ist, die wir bei unseren Arbeiten zum Thema Thyssen oft zu hören bekommen haben.

Als der Bremer Vulkan in den späten 1990er Jahren Pleite ging sahen weder die Thyssen Bornemisza Gruppe noch ThyssenKrupp eine Notwendigkeit, die Archive zu übernehmen. Statt dessen wurden diese einem „Freundeskreis“ („Wir Vulkanesen e.V.“) überlassen, der wichtige Akten, unter anderem Belegschaftsakten aus der Kriegszeit, welche auch Aufzeichnungen über Zwangsarbeiter enthielten, vernichtete – aus „Datenschutzgründen“ wie es hiess. Erst nach dieser Säuberung wurden die Akten dem Staatsarchiv Bremen überlassen. Auch die Überlieferungen der Zeche Walsum werden hier als „äusserst lückenhaft“ beschrieben, was angesichts der Tatsache, was für ein akribischer Technokrat Wilhelm Roelen war unwahrscheinlich, auf Kriegseinwirkungen zurückzuführen, oder durch willkürliche Zerstörung belastender Beweise zu erklären ist

Und so fiel es einzelnen Zwangsarbeitern selbst zu, die den Mut hatten, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu treten (und welche von verschiedenen örtlichen deutschen Geschichtsprojekten – manchmal sogar in Schulen – aufgegriffen und tatsächlich unabhängig von irgendwelchen Thyssen Organen bearbeitet wurden), die eindringlichsten Portraits der Zwangsarbeit bei Thyssen zu zeichnen.

Als der Niederländer Klaas Touber 1988 an den Bremer Vulkan schrieb (dessen Ehrenvorsitzender Heini Thyssen war) und um DM 3,000 Schadenersatz für seine Zwangsarbeit im Krieg bat, wurde dies abgelehnt mit der Begründung man könne „keine konkreten Tatsachen erkennen (…), die für uns eine Schadenersatzverpflichtung begründen“. Es wurde ihm mitgeteilt, die Werft sei „wirtschaftlich angeschlagen“ und „wenn man ihn entschädigen würde, müsste man auch den vielen anderen Menschen, die damals mit Ihnen diese Zeit durchgemacht haben….Geldzahlungen zukommen lassen“, wozu man „finanziell nicht in der Lage“ wäre. Dies zu einem Zeitpunkt, als Heini Thyssen seine Kunstsammlung zum Kauf anbot und anklingen ließ, sie sei bis zu 2 Milliarden Dollar wert. Klaas Touber, der zu einem Zeitpunkt seiner Zwangsarbeit beim Bremer Vulkan auf 40 Kg abgemagert war, hatte Zeit seines Lebens ein psychisches Trauma behalten, was nicht zuletzt daher rührte, dass einer seiner Landsmänner, der ihm bei einem Streit in der Kantine zu Hilfe gekommen war, im KZ Neugamme ermordet wurde. (Die Informationen wurden Dr Urban zum Teil durch Dr Marcus Meyer, Leiter des Denkorts „Valentin“ Bunker der Bremer Landeszentrale für politische Bildung überlassen – Klaas Touber war sehr in der Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit engagiert – und zum Teil von ihm einer Veröffentlichung des Landesverbands der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschisten Bremen e.V. entnommen).

Das vielleicht erschütternste und gleichzeitig hoffnungsvollste Schicksal ist das des Weissrussen Wassilij Bojkatschow. Als er 12 Jahre alt war nahmen die Deutschen sein Dorf ein, wobei sowohl sein Vater wie auch sein Großvater ermordet wurden. Beim Thyssen Werk der Deutsche Röhrenwerke AG musste er die gefährlichste Arbeit verrichten nämlich nicht explodierte Bomben entschärfen. 1995 schrieb er seine Memoiren und reiste 1996 nach Mülheim, wo er den Bürgermeister und ortsansässige Menschen traf, die Geld für seinen Besuch und den seiner Frau gesammelt hatten. Er beschrieb viele traumatische Erlebnisse, erinnerte sich aber auch an „viele Bilder menschlichen Mitleids und Güte“. Es scheint, dass er noch nicht einmal um Schadenersatz warb. (Dr Urban hat diese Informationen aus dem Jahrbuch der Stadt Mülheim entnommen).

Im Jahr 2000 schrieb eine Ukrainerin, Jewdokija Sch., an das Staatsarchiv Bremen: „Die Arbeit (beim Bremer Vulkan) war sehr, sehr schwer – ich arbeitete als Schweißerin, 12 Stunden täglich, in Holzschuhen, ganz erschöpft vom Hunger! Ich war schon 1944 wie ein Gespenst!“.

Nach ihrem Zusammenschluss trat die ThyssenKrupp AG im Jahr 2000 der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft bei, welche zur Entschädigung von Zwangsarbeitern finanziert wurde. Diesbezügliche Akten seien noch weitere 30 Jahre unter Verschluss und der akademischen Forschung nicht zugänglich, schreibt Dr Urban. Was er nicht erwähnt ist, dass es nicht bekannt ist, ob sich die Thyssen Bornemisza Gruppe jemals an einem Entschädigungsfond für Zwangsarbeiter beteiligt hat.

Interessanterweise befasst sich das nächste Buch der Serie mit den Kunstsammlungen der Thyssen Familie, welche das vordergründigste Instrument waren, mit dem sie ihr Schuldgefühl reinwaschen und ihre belastenden Kriegsverstrickungen hinter der Fassade einer kulturellen sogenannten Philanthropie verstecken konnten. Etwas was in den Boom-Jahren des deutschen Wirtschaftswunders und danach hervorragend funktionierte, als der Kunstmarkt von einem Höchstpreis zum nächsten emporschnellte und der Glanz der glamourösen Kunstwelt jegliche Sorge vor oder gar Erinnerung an die Quelle des Thyssen-Vermögens weg zu wischen schien.

Dr Thomas Urban, ein weiterer Thyssen-finanzierter Akademiker, diesmal von der Ruhr-Universität Bochum

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Posted in The Thyssen Art Macabre, Thyssen Art, Thyssen Corporate, Thyssen Family Comments Off on Buchrezension: Thyssen im 20. Jahrhundert – Band 2: “Zwangsarbeit bei Thyssen. ‘Stahlverein’ und ‘Baron-Konzern’ im Zweiten Weltkrieg”, von Thomas Urban, erschienen im Schöningh Verlag, 2014.

Buchrezension: Thyssen im 20. Jahrhundert – Band 1: “Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus, Konzernpolitik zwischen Marktwirtschaft und Staatswirtschaft”, von Alexander Donges, erschienen im Schöningh Verlag, Paderborn, 2014.

Dieses Buch über das “Gemeinschaftsunternehmen zu dem Unternehmen der Thyssen-Gruppe zählten” beginnt mit der Aussage des Autors, es sei “erstaunlich, dass sich die moderne unternehmenshistorische Forschung noch nicht intensiver mit der Entwicklung des Konzerns in den Jahren 1933 bis 1945 auseinandergesetzt hat”. Offensichtlich wurde die in unserem Buch enthaltene, unabhängige wissenschaftliche Information nicht anerkannt, obwohl sie Auslöser dafür war, dass Dr. Donges und seine akademischen Kollegen mit dem Umschreiben der Thyssen Geschichte beauftragt und dafür gefördert wurden.

Erst in der Mitte des 400-Seiten schweren Traktats rückt er schließlich damit heraus, dass die Vereinigten Stahlwerke (VSt, Vestag) massiv im Rüstungsgeschäft tätig waren, aber dass “in der Forschung (dies) bislang nicht hinreichend beachtet (wurde), sodass die Vestag im Gegensatz zu Unternehmen wie dem Krupp-Konzern eher als Roheisen- und Rohstahlproduzent wahrgenommen wird”.

Die Entscheidung, wie man auf solche ganz offensichtlich manipulierten Behauptungen reagieren soll fällt schwer und wir fragen uns, ob es Dr Donges jemals in den Sinn gekommen ist, dass die Dimensionen der bisherigen fälschlichen Darstellung so bedeutsam sind, dass der Schluss auf der Hand liegt, dass sie nicht zufällig sondern absichtlich zustande kam.

Da die Thyssens zusammen mit dem Deutschen Staat zu Beginn von Hitler’s Diktatur 72,5% der Vereinigten Stahlwerke kontrollierten, und deren Ausstoß drei Mal so groß war wie der ihres größten Konkurrenten, war es stets unlogisch, dass Alfried Krupp im Nürnberger Prozeß zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, während die Thyssens ungeschoren davon kamen. Sie konnten dies aus vielen verschiedenen Gründen, die in unserem Buch ausführlich beschrieben werden, und so wurde der Mythos ihrer heldenmütigen Unbeflecktheit erschaffen.

Es ist offensichtlich, dass die akademische und die Medienwelt in Deutschland willens waren, diesem Mythos zu folgen statt ihn zu hinterfragen, wie wir es getan haben. Zu ihrer Verteidigung mögen sie anführen, dass sie gewisse Dokumente nicht einsehen konnten und ihre Forschungen dadurch behindert waren. Doch während die Archive der Thyssen-Bornemiszas tatsächlich bis vor kurzem für die akademische Welt unzugänglich waren, bestand für die Akten des 53-Jahre alten ThyssenKrupp Archivs keinerlei Zugangsbeschränkung (offiziell jedenfalls nicht; die Wahrheit steht auf einem anderen Blatt).

Als Georg Thyssen-Bornemisza ca. 2006/7 die Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen ins Leben rief und ihr die Archive seines Vaters übergab (welche wir zuvor privat in Madrid und später in Monte Carlo eingesehen hatten), unterstellte er diese der fragwürdigen Pflegschaft von Prof. Manfred Rasch, Leiter des Archivs der ThyssenKrupp AG und sogar, so scheint es, zur Aufbewahrung im selben Gebäude in Duisburg, welches das ThyssenKrupp Archiv enthält.

Dieser erstaunliche Transfer hatte zur Folge, dass die Akten der Familie Fritz Thyssen mit den Akten der Familie Heinrich Thyssen-Bornemisza symbolisch vereinigt wurden; ein unglaublicher Akt, wenn man bedenkt, wie wichtig es für die Aufrechterhaltung des geschichtlichen Thyssen-Mythos war, stets zu betonen, dass die eine Seite der Familie mit der anderen Seite nichts zu tun hatte – ein Mythos, den die drei ersten Bücher dieser Reihe nichtsdestotrotz weiter fortsetzen.

Bei näherer Einsicht der Bestände, jedoch, scheinen kuriose interne Restrukturierungen der Akten in den beiden Archiven vorzugehen. Da sind zum einen wichtige Akten, von denen wir wissen, dass sie vormals im ThyssenKrupp Archiv waren, wie z.B. (erstaunlicherweise) der Nachlass von Wilhelm Roelen (Hauptmanager von Heinrich Thyssen-Bornemisza) oder der Nachlass von Robert Ellscheid (Hauptanwalt von Fritz und Amélie Thyssen) und von denen jetzt behauptet wird, sie befänden sich im Archiv der neuen Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen.

Was aber besonders aus den Fußnoten hervorsticht ist, dass immer und immer wieder wenn es speziell um militärische Rüstung geht, die Akten meist aus dem Archiv der neuen Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen stammen sollen, und nicht aus dem der ThyssenKrupp AG, sodass man das Gefühl bekommt, hier könnte eventuell eine Schadensbegrenzung zugunsten des kränkelnden Riesen der deutschen Schwerindustrie im Gange sein.

Auf alle Fälle ist eines der wenigen, bedeutenden Eingeständnisse dieses Buches, dass die Flucht Fritz Thyssens von Deutschland in die Schweiz bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weniger mit heroischer Auflehnung gegen Hitler, und mehr mit der Tatsache zu tun gehabt haben könnte, dass er massiv gegen Devisenbestimmungen verstoßen und Steuern hinterzogen hatte, von der wir zuerst berichteten (obschon es nichts über weitere Gründe für seine Flucht aussagt, wie zum Beispiel Hitlers erniedrigende Anschuldigung des Eigennutzes).

Während Dr Donges die Verfehlungen Fritz Thyssens in Zahlen festhält, nämlich 31 Millionen Reichsmark in hinterzogenen Steuern plus 17 Millionen RM Reichsfluchtsteuer, also ein Gesamtbetrag von 48 Million RM, der an den deutschen Staat zu zahlen gewesen wären, mildert er die Aussage ab, indem er behauptet, das Entnazifizierungsverfahren von 1948 sei nicht zu dem Schluss gekommen, dass dieser Aspekt eine wichtige Rolle bei Fritz Thyssens Flucht gespielt habe. Dr Donges unterlässt es jedoch, diesen Beweis zu qualifizieren – wie es andere Autoren in dieser Reihe tun – und darauf hinzuweisen, dass die ehrliche Aufarbeitung durch diese Gerichte zum Erliegen kam sobald der Kalte Krieg begann.

Es ist auch bemerkenswert, dass der Autor behauptet die kritische Steuerfahndung in Sachen Fritz Thyssen habe Ende der Zwanziger Jahre begonnen, obwohl diese in Wirklichkeit bereits bald nach dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang nahm.

Das Buch bringt es fertig, zu veröffentlichen, dass die zurückgezogen lebende Joseph Thyssen Seite der Familie (vom Bruder des alten August Thyssens abstammend) indirekt von der Verfolgung von Juden profitierte, da das Reich ihnen nach Fritz Thyssens Flucht und der Beschlagnahmung seines Vermögens, den Wert ihrer VSt-Aktien, nämlich 54 Million RM, mit Aktien aus jüdischem Besitz erstattete, die durch die Judenvermögensabgabe an das Reich gekommen waren.

Aber es war Fritz Thyssen, dessen Anti-Semitismus offensichtlich war, während er in prominenter Position 1933/4 daran beteiligt war, die jüdischen Mitglieder Paul Silverberg, Jakob Goldschmidt, Kurt Martin Hirschland, Henry Nathan, Georg Solmssen und Ottmar E Strauss aus dem Aufsichtsrat der VSt zu drängen. Und ganz gleich wie oft man in dieser Serie versuchen wird, uns weiszumachen, dass Fritz Thyssen sich nach 1934 “selbst stufenweise ent-nazifierte” und dass seine Judenfeindlichkeit nicht von der bösartigen, mörderischen Art war, so müssen wir uns daran erinnern, dass die wirtschaftliche Entrechtung der Juden den ersten Schritt auf dem Weg zum Holocaust darstellt.

Als die Simon Hirschland Bank in Essen 1938 “arisiert” und von einem Konsortium übernommen wurde, an dem die Deutsche Bank und die Essener National-Bank AG beteiligt waren, kaufte Fritz Thyssen einen Anteil von 0.5 Millionen RM, aber seine Rolle wird als “fraglich” bezeichnet und gesagt, dass “in der Forschung nur ungenau beantwortet (wird) welche Rolle Thyssen bei der Gründung dieses ‘Arisierungs-Konsortiums’ spielte”. Dies ist eine Methode, mit der Akademiker Zweifel an etablierten Einschätzungen aussähen, vor allem wenn diese für die Thyssens rufschädigend sind und sie von ihnen beim Umschreiben ihrer Geschichte gefördert werden.

Natürlich bleibt die sehr wichtige Finanz- und Bankenseite der Fragestellung genauso unterbelichtet, wie sie es zur Zeit des Geschehens war. Dr Donges erwähnt anonyme Holdings in den Niederlanden, der Schweiz und in den USA; dass das Reich die Rüstungsfinanzierung über die Metallurgische Forschungsanstalt verschleierte; und Faminta AG im schweizerischen Glarus, von dem er behauptet, es sei ein ausländisches Instrument der Thyssen & Co., nicht von Fritz Thyssen persönlich, gewesen. Er nennt nicht die Namen der amerikanischen Anleihegläubiger und sagt aus, dass die Rolle des Finanzministeriums im Dritten Reich noch nicht ausreichend erforscht worden ist.

Und während Dr Donges auf Seite 28 in oberflächlichster Weise informiert, dass nach dem Tod des Patriarchen August Thyssen 1926, Fritz Thyssen seinem Bruder Heinrich “einen Teil” der VSt Aktien abtreten musste (es waren anfänglich nicht weniger als 55 Millionen RM, für die er im Gegenzug Anteile an der Familien-eigenen Bank voor Handel en Scheepvaart in Rotterdam erhielt, die von Heinrich Thyssen-Bornemisza kontrolliert wurde), beschreibt er nirgends, wie lange dieser Anteil wohl im Besitz von Heinrich Thyssen-Bornemisza verblieb und ob er sich noch in seinem Besitz befand, als das Vermögen von Fritz Thyssen 1939/40 konfisziert wurde (und falls ja, was dann damit geschah).

Statt dessen konzentriert sich der Autor auf die “Nutzung von politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Optionen für den wirtschaftlichen Erfolg” in der NS-Zeit. Er veranschaulicht “die unternehmerischen Vorteile des Ausbaus der Rüstungsbetriebe” und stellt fest: “Auch wenn die Handlungsspielräume im Vergleich mit der Weimarer Republik aufgrund zahlreicher Restriktionen eingeschränkt waren, konnte die Konzernleitung (der VSt) weiterhin eine langfristig ausgerichtete Investitionsstrategie verfolgen.”

Und so endet das Buch mit der weltbewegenden Schlussfolgerung: “Betrachtet man die Entwicklungslinien der deutschen Stahlindustrie im 20. Jahrhundert, so bewegten sich die Stahlerzeuger im langfristigen Trend hin zur Weiterverarbeitung. Daher wäre die Vestag (Vereinigte Stahlwerke AG) in den 1930er Jahren wohl auch unter einem anderen politischen Regime diesen Weg gegangen”.

So muss man annehmen, dass dies der Hauptgrund für dieses Werk war: das Image der ThyssenKrupp AG und das Gewissen überlebender Mitglieder der Thyssen-Familie, die von der Rolle der Vereinigten Stahlwerke AG beim Tod von 80 Millionen Menschen als Auswirkung des Zweiten Weltkriegs profitiert haben – und dies noch tun – sauber zu halten.

Es ist nicht ersichtlich, wie Dr Donges mit seiner Doktorarbeit tatsächlich die Forschungslücke zum Thema Vereinigte Stahlwerke in der Nazi-Periode auch nur annähernd “schließen” könnte, wie in der Missionsaussage zur Projektreihe “Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit. Thyssen im 20. Jahrhundert” zu lesen steht.

Ob jemand ausserhalb des Zirkels der offensichtlich Thyssen-finanzierten Forscher in Folge dessen aus dem “großen, bedingungslosen Schlummer” erwachen und beschließen wird, eine etwas kritischere Forschung zu betreiben, wird sich zeigen. Akademische Buchrezensionen (z. B. von Tobias Birken bei Sehepunkte, oder Tim Schanetzky bei H-Soz-Kult) lassen bisher nicht viel Hoffnung auf eine wirklich kritische Auseinandersetzung aufkommen. In jedem Falle ist es eine ganz andere Frage, wie abweichende Akademiker empfangen würden, wenn sie an die Tür der “Archive des Professors Rasch” anklopften.

Der Volkswirt (Dr.) Alexander Donges, wie er seinen Titel an der Universität Mannheim als akademischer Thyssen-Söldner verdient

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Posted in The Thyssen Art Macabre, Thyssen Corporate, Thyssen Family Comments Off on Buchrezension: Thyssen im 20. Jahrhundert – Band 1: “Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus, Konzernpolitik zwischen Marktwirtschaft und Staatswirtschaft”, von Alexander Donges, erschienen im Schöningh Verlag, Paderborn, 2014.

Ein Umschreiben der Geschichte – Thyssen im 20. Jahrhundert: Immer noch voller Rechtfertigungen und Beschönigungen, mit einer erheblichen Anzahl von offensichtlichen Auslassungen – aber doch auch einigen, manchmal erstaunlichen Eingeständnissen.

Es hat sieben Jahre seit der Veröffentlichung unseres Buches über die Thyssens im Asso Verlag Oberhausen gebraucht, bis die erste Tranche der „offiziellen“ Thyssen Antwort heraus gekommen ist, in der Form der ersten einer Reihe von acht Büchern, die von der Fritz Thyssen Stiftung und der neuen Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen finanziert, und vom böswilligen Professor Manfred Rasch, Leiter des ThyssenKrupp Konzernarchivs, orchestriert werden; dessen Voreingenommenheit sich in der Tatsache manifestiert, dass auf unser Buch zwar oft Bezug genommen, es aber nie zitiert wird.

Prof. Rasch schafft es sogar, unsere Existenz zu verleugnen, indem er behauptet, der verstorbene Baron Heini Thyssen-Bornemisza sei zeitlebens mit seinem Vorhaben gescheitert, eine authorisierte Biografie in Auftrag zu geben.

Nach einigen Verzögerungen sind 2014/5 die ersten drei Bücher der Serie erschienen: „Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus“; „Zwangsarbeit bei Thyssen“ und „Die Thyssens als Kunstsammler“. Wir werden alle drei in den kommenden Wochen rezensieren.

Erstaunlicherweise sind die Autoren der Bücher alle jüngere Akademiker, ohne bzw. mit geringer bisheriger Kenntnis oder praktischer Erfahrung des jeweiligen Themas, und die als „unabhängige Historiker“ beschrieben werden. Es heisst, sie würden „eine Forschungslücke“ in der Geschichte der Thyssen Familie, der ThyssenKrupp AG und der Thyssen-Bornemisza Gruppe „schließen“.

Da diese Autoren jedoch von eben diesen Personen, Unternehmen und assoziierten Stiftungen beauftragt, gesponsort und unterstützt worden sind ist es nicht zutreffend, sie als „unabhängig“ zu beschreiben. Solch eine Aussage ist vielmehr im besten Falle irreführend und im schlimmsten Falle betrügerisch.

Im Falle des herausragenden Investors in diese Arbeiten, die in weiten Teilen nichts anderes als akademische Hagiografien zu sein scheinen, sollte man sich daran erinnern, dass die Fritz Thyssen Stiftung von Amélie Thyssen gegründet wurde, die der NSDAP bereits 1931 – also zwei Jahre vor ihrem Mann Fritz Thyssen – beigetreten war, und die niemals öffentlich bereut oder ihr Bedauern für ihre Unterstützung Adolf Hitler’s zum Ausdruck gebracht hat.

Man muss sich auch fragen, warum nicht erfahrenere Akademiker mit erwiesenem Wissen und Fähigkeiten für dieses wichtige und heikle Program gewonnen werden konnten. Es ist anzunehmen, dass dies entweder darauf basiert, dass die Junioren „formbarer“ sind oder darauf, dass die höher gestellten Wissenschaftler nicht bereit waren, ihren eigenen Ruf zu gefährden, um die trübe Geschichte der Thyssens aufzupolieren.

Hierbei ist für die beaufsichtigenden Projektleiter Prof. Margit Szöllösi-Janze (Universität München) und Prof. Günther Schulz (Universität Bonn) die Übergangslinie hin zur akademischen Hurerei wohl schon sehr verschwommen, da generell in den letzten 55 Jahren so viele akademische Forschungsprojekte in Deutschland von eben dieser Fritz Thyssen Stiftung finanziert worden sind. Es dürfte äusserst schwierig sein, sich von dieser ewiglich betriebsbereiten Stipendien-Pumpe zu emanzipieren.

Demgegenüber beschuldigte uns Manfred Rasch während unseres Besuchs im Archiv der ThyssenKrupp AG 1998 nicht nur, das Empfehlungsschreiben von Heini Thyssen gefälscht zu haben, er war auch extrem unkooperativ und behauptete, mit der Geschichte der Thyssen Familie, von der er in negativen Tönen sprach, nichts zu tun zu haben. „Sein“ Archiv enthalte kein Material über die Thyssen Familie, sagte er. Die Frage lautet also: Was hat sich verändert, dass er nunmehr ein Mitwirkender bei diesem Projekt ist?

Wir nehmen an, es war unsere Publikation “Die Thyssen-Dynastie. Die Wahrheit hinter dem Mythos” und die ungünstige Berichterstattung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, da dies der Zeitpunkt zu sein scheint, an dem das akademische Programm der Schadensbegrenzung von ihm, der Familie und dem Unternehmen in Gang gesetzt wurde.

Guido Knopp, die graue Eminenz der deutschen TV-Geschichts-Dokumentation, hat in einem seiner Programme gesagt, „unsere Generation ist nicht verantwortlich, für das, was unter den Nazis geschehen ist, aber sie ist umso verantwortlicher für das Erinnern daran, was passiert ist.“

Im Licht der Thyssen Geschichte wirft dies die Frage auf: wie sollen wir die Geschichte der Nazi-Ära angemessen recherchieren und daran erinnern, wenn Menschen wie die Thyssens 70 Jahre lang auf den Beweismaterialien sitzen und sie nur einigen Personen unter privilegierten, akademischen Kriterien zur Verfügung stellen und sie so der Wahrnehmung durch die allgemeine Öffentlichkeit entziehen?

Das Resultat solch einer undurchsichtigen Aufarbeitung kann nur eine Beschönigung sein und diese Serie, genauso wie etliche Bücher die in der Vergangenheit von der Thyssen Organisation unterstützt wurden, enthält davon ganz offensichtlich sehr viel. Und wenn nicht in Fakten, dann in Mutmaßungen.

Doch soweit es ersichtlich ist werden in diesen Büchern auch einige wichtige Eingeständnisse gemacht, vermutlich damit ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit eingehalten werden kann, oder vielleicht auf Druck der am meisten voraus denkenden Mitglieder des Teams. Diese Tatsache bestätigt für uns den Wert der Zeit und Anstrengung, die wir darin gesteckt haben, das erste ehrliche Portrait überhaupt der Thyssen Familie und ihrer Aktivitäten zu zeichnen.

Es freut uns, dass wir damit den angestrebten Effekt erzielt haben, nämlich die Organisation dazu zu bewegen, von der alten Version der Geschichte abzurücken, welche sich weigerte überhaupt etwas zuzugeben, das negativ ausgelegt werden konnte und die Thyssens immer nur im Licht eines selbstlosen Heldentums und makellosen Stolzes darstellte, die sich besonders in einer angeblichen Abwendung von den Idealen der Nazis äusserten.

Ein 94 Jahre alter, ehemaliger Auschwitz-Buchhalter, Oskar Gröning, der selbst nie an Tötungen beteiligt war, wurde vor Kurzem zu vier Jahren Haft verurteilt. Er zeigte große Reue und entschuldigte sich für seine Mitwirkung am Massenmord, eine Haltung, die nicht von vielen seiner Mitbeschuldigten gezeigt worden ist, falls überhaupt jemals in dieser Form.

Es fühlte sich an wie eine Äußerung, die abgestimmt war, um ein neues Bild von Aufarbeitung zu präsentieren, eine offenere, ehrlichere Aufarbeitung, die auch mit den Opfern mitfühlend ist. Oder vielleicht ist Herr Gröning nur ein besonders erleuchteter Mensch.

Außer Herrn Gröning’s Äußerung kommentierte der Staatsanwalt dann noch folgendermaßen: Auschwitz hätte nicht nur mit einzelnen Straftaten zu tun gehabt, sondern sei ein „System“ gewesen, und „jeder der zu diesem System beigetragen“ habe, sei „verantwortlich“.

Die Thyssens haben in vielfältiger Weise und sehr viel mehr als viele andere zum Nazi System beigetragen, zum Beispiel indem sie halfen, Hitler’s Truppen so massiv zu bewaffnen, dass in weiten Teilen Europas das Nazi-Terrorregime eingerichtet werden konnte. Ihre Nachfahren, die von den unmoralischen Gewinnen ihrer Ahnen (und Ahninen) profitiert haben, und dies noch tun, haben sehr viel mehr Grund als die allgemeine deutsche Öffentlichkeit heute, sich zu entschuldigen und sicherlich daran zu erinnern, was genau geschah.

Die Frage ist: werden sie je eine ähnliche Äußerung abgeben, wie dies Oskar Gröning getan hat?

Und noch wichtiger: falls nicht, warum nicht?

"Wer die Musik bezahlt bestimmt die Melodie". Amelie Thyssen, die ewige Sponsorin (copyright Fritz Thyssen Stiftung)

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Warum ich mich über die Thyssens ärgere (von Caroline D Schmitz)

Als ich 1992 Deutschland verließ und nach England zog hatte mein Vaterland gerade erst begonnen, den Kalten Krieg, während dessen die Aufarbeitung der Nazi Vergangenheit zum Erliegen kam, hinter sich zu lassen. In England hatte ich die unfassbare Gelegenheit mit David Litchfield an einer Biographie der Thyssen Familie zu arbeiten, für deren Vervollständigung und Publikation in England, Spanien und Deutschland wir 14 Jahre benötigten.

Jetzt bin ich zurück in Deutschland und freue mich zu sehen, dass ein neuer Wind in Sachen Aufarbeitung weht. Aber dem stehen die Hinterfragten teils immer noch mit erheblichem Widerstand entgegen. Dabei ist die Zeit nunmehr überreif für die Abkömmlinge derer, die damals in verantwortlichen Positionen waren, zu sagen „Ja, was passierte war schrecklich, und unsere Familien geben zu, was genau ihre Rolle dabei war und wir bekennen, dass es uns leid tut“.

Statt dessen geben speziell die Thyssens immer noch große Summen aus, um geklitterte Versionen ihrer Geschichte zu produzieren. Das ist besonders schmerzhaft für Leute wie mich, da meine Familienmitglieder Soldaten in Hitler`s Krieg waren, getötet wurden oder verletzt, und sie zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringste Unterstützung erhielten, um mit ihren höchst traumatischen Kriegserlebnissen zu Rande zu kommen. Das ist eine Tragödie, die einen überwältigenden Langzeiteffekt auf die deutsche Gesellschaft hat. Und darum ärgere ich mich so über das Verhalten der Thyssens.

Heini Thyssen`s Witwe, Carmen Cervera, hat dieses Jahr in Spanien seine „Memoiren“ veröffentlicht. Das Meiste davon ist theatralischer Unfug, aber das Buch enthält auch einige, unbeabsichtigte interessante Informationen, die wir im neuen Jahr auf dieser Webseite vorstellen werden. Besonders konstrastieren werden wir dieses „Werk“ mit einem anderen, größeren Thyssen Weisswasch-Projekt, welches 2014 die ersten Früchte getragen hat.

Als unser Manuskript 2006 zirkulierte gründete Heini`s Sohn Georg Thyssen die „Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen“ und schloss sich später mit der Fritz Thyssen Stiftung und dem ThyssenKrupp Archiv unter Manfred Rasch zusammen. Sie beauftragten über ein Dutzend Akademiker unter der Leitung von Margit Szöllösi-Janze, Günther Schulz und Hans Günter Hockerts, um eine Reihe von Büchern über „Die Thyssens im 20. Jahrhundert“ zu schreiben. Bisher sind zwei Bände veröffentlicht worden: „Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus“ von Alexander Donges und „Zwangsarbeit bei Thyssen“ von Thomas Urban. Ein dritter Band, “Die Thyssens als Kunstsammler” von Johannes Gramlich, soll im März 2015 erscheinen und danach mindestens fünf weitere Bände.

Obwohl diese Bücher in der Tat einige Eingeständnisse enthalten, so ist der überwiegende Tenor jedoch, dass eine direkte Verantwortung der Thyssens weiterhin nicht akzeptiert wird. Die verschleiernden Verschachtelungen der Missionsaussage können der Zusammenfassung einer Tagung entnommen werden, die zu diesem Projekt im Juni 2014 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand.

In den kommenden Monaten und Jahren werden wir, basierend auf unseren Forschungen und im Interesse der historischen Wahrheitsfindung, unseren Lesern auf dieser Webseite eine detaillierte, kritische Analyse dieser Thyssen-finanzierten „Aufarbeitung“ zur Verfügung stellen.

Freiburg im Breisgau nach einem britischen Bombenangriff, November 1944

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